Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Deutsche Nabelschau

von Max Hagebök

In meinem Zimmer hat die Hitze ihre Spuren hinterlassen. Trotz der dunklen Vorhänge hat die Sonne die Luft erwärmt, und die legt sich schwer auf die Möbel. Auf den Büchern in den schwedischen Regalen tummeln sich die Mikroben, ich nenne sie Staub. Überhaupt, das Leben verlangsamt sich bei dieser klirrenden Wärme. Bedächtig winden sich die Gedanken.
Die Zeitungen der vergangenen Tage liegen auf dem Fußboden. Seitenweise Fahnenschwingende im deutschen Look. Fröhliche Gesichter und lärmende Münder. »Deutschland, Deutschland« füllt die leeren Stellen zwischen den Buchstaben.
In den Kommentaren feiern die Edelfedern dieses Deutschsein als eine wunderbare Entdeckung. Endlich wäre dieses Volk gleich den anderen. Nur einige Bedenkenträger versuchen mannhaft, die Wurzeln eines neuen Nationalismus zu entdecken. Sie werden scheitern.
Diese Fußball-Weltmeisterschaft kann nicht für eine Renaissance deutscher Verbrechen herhalten. Denn der Sinn diese Spiele ist das Kräftemessen der besten Ländermannschaften der Welt. Es ist wahrlich die einfache Logik, daß die Anhänger des jeweiligen Landes in den nationalen Farben gehüllt oder bemalt, zu den Spielen anrücken. Was sollte sonst ihre Verbundenheit mit der Mannschaft ausdrücken? Deshalb mißbrauchen die Politiker und Medien aller Couleur diese Fans, wenn sie von Patriotismus und Nationalstolz palavern. Wer jemals in einem Stadion war, wird wissen, daß die brüllenden und feiernden Massen nur ein Ziel ihrer Begierde kennen – es ist die eigene Mannschaft. Kein Land, kein System und keine Politik.
Die Verführer dieser sportlichen Party sind die Politiker und ihre Ideologen. Deshalb sollte genauer hingeschaut werden, wer stolz den Patriotismus auf die Bühne schiebt. Hinter den Kulissen spielt das wahre Stück. Denn davor herrscht die reine Spielfreude.
In den Kulissen verbirgt sich der politische Sprengstoff für die dunklen Seiten patriotischer und nationaler Siegesgesänge. Mit jedem Tag der großen Koalition entwickelt sich das soziale Schmarotzertum der Unternehmen; die Angst des einzelnen vor dem sozialen Abstieg macht sich breit. Diese soziale Einbahnstraße der Merkelschen Politik verlangt nach Patriotismus. Deshalb muß das Volk bei Laune gehalten werden. Damit es nicht mit der gleichen Begeisterung wie für den Fußball gegen den Sozial- und Demokratieabbau feiert. Es sollen die zukünftigen Widerstände abgefedert werden. Das gelingt um so mehr, da es den politischen Gegenspieler nicht mehr gibt.
Die parteitreuen Linken haben sich politisch verabschiedet oder sind immer noch dabei, sich von der sozialistischen Praxis der DDR zu distanzieren. Dies bindet massenhaft Gehirnschmalz und macht die Birne weich. Nicht anders kann die einseitige Schuldzuweisung gen Osten bei der ängstlichen DDR-Rezeption in der neuen Linkspartei verstanden werden. Über die historischen Niederlagen der Linken im Westen, ob sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich organisiert, schweigen die wunderbaren Westlinken.
Durch diesen Kotau der Linken vor dem siegreichen Kapitalismus – und nicht etwa vor der Moderne – werden die Geschichte und die aktuelle Politik auseinandergerissen. Moralische Kategorien werden zu politischen Werten ernannt, und mit ihnen wird die politische Geschichte interpretiert. Damit nicht genug, auch die Gegenwart wird so erklärt.
Dabei wird alles unternommen, um jeden Verdacht eines emanzipatorischen Denkansatzes vorauseilend zu erledigen. Über das innige Verhältnis zwischen korrupter Politik und asozialen Unternehmen zu reden, gilt nicht mehr als schick.
Somit sind die Linken wieder in der politischen Denke der DDR angekommen. Die Wirklichkeit wird aus theoretischen Prämissen erklärt; die Wirklichkeit bleibt also vor der Tür. Das typische Funktionärsdilemma findet seine Auferstehung. Dagegen wäre Marx zu lesen. Oder Heiner Müller: Hoffnung erwächst aus einem Mangel an Informationen.