Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

Ausgeblendete Fragen

von Ulrike Steglich

Für die Worte Rütli-Schule Neukölln verzeichnet Google 145000 Treffer. Das ist ein interessantes Ergebnis für eine Hauptschule, die bis vor kurzem kaum jemand kannte – und für die sich in ein paar Wochen kaum eine Zeitung und kaum ein Fernsehsender mehr interessieren wird.
Natürlich war die Rütli-Schule ein dankbares Medienthema, weil sich darin kaleidoskopartig so viele Probleme gebündelt zeigten: Politikredakteure, Feuilletonisten und Lokalreporter schrieben seitenweise über Versäumnisse und Versagen (wahlweise der Eltern, Lehrer oder der Politik), über das Bildungssystem, die Kieze, Migration, Integration, Arbeitslosigkeit, über Bildungsziele, Werte, Gewalt und last but not least mediale Inszenierungen. Und dann mußten ja auch noch die zahllosen reflexartigen Politikerforderungen kolportiert werden: Abschiebung, Polizei oder »christliche Werte«. Schließlich wurden ein neuer Rektor und zwei Sozialarbeiter als befristete Feuerwehr berufen, und dann war schon wieder Schluß.
Der grandiose Medienhype, den der Brandbrief der Hauptschullehrer ausgelöst hatte und der sich nahtlos an die aufgeregte Schulhofsprachendebatte anfügte, offenbart vor allem zweierlei: die Irritation einer kinderentwöhnten Gesellschaft und ihrer weitgehend kinderlosen Elite angesichts von Alarmsignalen aus einer ihnen fremd gewordenen Welt. Und die fulminante Angst der Mittelschicht vor dem allgemeinen Absturz, die auf die Rütli-Schüler projiziert wird: Die sind rabiat und dumm, finden keinen Job, dealen und kosten viel schönes Hartz-IV-Geld. Dabei sickert langsam die Erkenntnis durch, daß Jugendliche wie die Rütli-Schüler zu jener Generation gehören, die später einmal den dann vergreisten Eltern, Lehrern, Feuilletonisten und Politikern von heute im Seniorenheim den Hintern abputzen muß. Es gibt also Grund, sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Mediale Erregungskurven fallen um so steiler aus, je weniger Leute sich durch das Thema persönlich angesprochen fühlen müssen. Angesichts permanent sinkender Geburtenraten mutieren Kindererziehung und Bildung zu Exotenthemen, und je weniger Exoten vorhanden sind, desto mehr »Experten« tummeln sich auf dem Meinungsmarkt, desto leidenschaftlicher wird debattiert. Die Verstörung ist um so größer, als sich über Jahrzehnte zumindest im Westen hartnäckig die Ansicht gehalten hat, daß Kinder solange die Privatangelegenheit ihrer Eltern sind, bis sie reibungslos in den Arbeitsmarkt eingespeist werden können: die aus »guten« Elternhäusern in die akademischen Berufe, die anderen an die Fließbänder. Doch irgendwann geriet die urdeutsche Arbeitsteilung – Erziehung sei ausschließlich Mamasache, Bildung werde in der Schule erledigt – endgültig an ihre Grenzen: Die Welt und der Arbeitsmarkt hatten sich rasant verändert, nur das Bismarcksche Sortiersystem nicht.
Ein Land, das seit Jahrzehnten Bildung lediglich als Lieblingsspielzeug für föderale Hahnenkämpfe betrachtet und Erziehung ratlos einer TV-Supernanny überläßt, muß sich über die Resultate nicht wundern. Für Schüler, Lehrer, Erzieher und Eltern jedenfalls ist das alles nicht überraschend, und spätestens seit PISA ist auch bekannt, was zu tun wäre: mehr Investitionen in Kindergärten und Grundschulen, Beitragsfreiheit und pädagogisches Personal für Kindergärten, mehr Sozialarbeiter und Psychologen an Schulen, eine grundlegende Bildungs- und Schulreform, mehr Sprach- und Erziehungskurse für Eltern … Das alles aber kostet Geld.
Hauptschüler, die irgendwann als »Problem« wahrgenommen werden, fallen nicht einfach vom Himmel. Zuvor haben sie eine mindestens zwölfjährige Geschichte voller Enttäuschungen und Vernachlässigung hinter sich. Daß sie mit einem Hauptschulabschluß kaum eine berufliche Zukunft haben, ist ihnen bis zu diesem Zeitpunkt schon oft genug mitgeteilt worden. Was erwartet man von Kindern, die bereits mit zehn oder zwölf den Stempel des Verlierers verpaßt bekommen und für ihre soziale Herkunft quasi in Sippenhaft genommen werden, weil das deutsche Bildungssystem die Ungleichheit nicht ausgleicht, sondern erwiesenermaßen noch verschärft?
Desintegration ist kein Problem ethnischer Herkunft und kein Migrationsproblem; dafür genügt ein Blick nach Ostdeutschland. Der bei Spiegel online veröffentlichte Brief der Direktorin einer ostdeutschen Schule beschreibt eindrucksvoll, worum es eigentlich geht (www.spiegel.de/unispiegel/schule/0,1518,409733,00.html).
Wo sich eine Gesellschaft nach wie vor als Arbeitsgesellschaft versteht, ist Arbeit der wichtigste Integrationsfaktor. Wo Arbeitslosigkeit zum Normalzustand, zur Dauer- und Massenerscheinung wird, wo ganzen Vierteln, Städten, Regionen die Perspektive abhanden gekommen ist, wo sich Strukturen auflösen, ist Desintegration die Folge. Gut Ausgebildete wandern dorthin ab, wo es Arbeit gibt, zurück bleiben die, die diese Chance nicht haben.
Auch Jugendliche wissen, was es bedeutet, wenn fünf Millionen dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind und schlicht nicht mehr gebraucht werden. Was kann man Jugendlichen eigentlich antworten auf deren einfache Frage, wer sie überhaupt braucht und wozu?
Noch wird die Schule vor allem als Vorbereitung für den Arbeitsmarkt betrachtet. Was aber könnten und müßten Erziehung und Bildung vermitteln in einer sozial auseinanderdriftenden Gesellschaft, der die Industrie- und Erwerbsarbeit zunehmend abhanden kommt? Welche Fähigkeiten, welches Wissen, welche Werte sind dann notwendig? Und wer soll sie eigentlich vermitteln, wenn sich schon die Erwachsenen von heute mit der spätpubertären Schuldzuweisung an die Erwachsenen von morgen begnügen?