Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 2. Mai 2006, Heft 9

Patriotin in der Ferne

von Sarah Liebigt

Im ersten Semester vermißte ich in Konstanz das Großstadtflair. Und ich hoffte, diesen Mangel mit Ausflügen nach Hause, nach Augsburg und nach Zürich kompensieren zu können. Tröstende Kommentare Daheimgebliebener: Der Mensch gewöhne sich an alles, auch an ein Leben in der Kleinstadt. Bereits nach einem Semester wußte ich: Hier studieren – ja; aber hier leben? In so einem Kaff?
Nach einem Jahr wird mir klar, daß es nicht das Großstädtische ist, was ich vermisse. Mir fehlt Berlin, Berlin an sich, sozusagen. Und ich beginne einen mühsamen Versuch, den Mangel auszugleichen. Ich höre Musik – Seeed, Element of Crime, die Ärzte. Dann will ich mir Berlin an die Wand hängen. Aber ich habe kaum freie Wände. Bleibt der Kleiderschrank. Manchmal habe ich Lust, an die Decke zu sprühen: Mein Berlin. Von einem Besuch zu Hause bringe ich alte BE-Plakate mit. Brecht. Müller. Shakespeare. Und warte sehnsüchtig auf den Umzug in eine neue Unterkunft. Wo es mehr freie Flächen geben wird. Schließlich fange ich an, mir Berlinfilme auszuleihen. Und ich intensiviere wieder die Kontakte zu denen daheim. Und Besuche zu Hause sind auf einmal wie ein Drogenrausch.
Und dann folgen wieder harte Entziehungsphasen, in denen man im Bus steht und zwei Mädels zuhört, die lauthalsch über die dummen Schweizer läschtern, die könne ja nimmer Doitsch. (Logisch, sind ja auch keine Deutschen.) Und ich denk mir, manmanman, fahrt ihr mal nach Berlin oder irgendwohin nördlich des Mains und versucht mal, euch mit eurem schrecklichen Dialekt durchzuschlagen.
Und ich sitze wieder kopfschüttelnd im Seminar, wenn die Referentin ihr offensichtlich komplett ausformuliertes Skript vorschwäbelt.
In den ersten Wochen das typische Herumfragen: Und, was studierst du so? Ach so. Nächste Frage: Und woher kommst du? Berlin? Echt? Sag’ doch mal ‘was auf berlinisch. Äh. Wie jetzt? Leicht peinlich berührtes Ins-Glas-gucken. Fünf Gesichter schauen erwartungsvoll. Ich gelte hier als Exotin.
Mittlerweile habe ich gelernt, in Runden meinen Dialekt wirkungsvoll als eine Art »Lockerungsübung« einzusetzen – obwohl der Spaß eigentlich nur mit ein paar begeisterten Lachern beginnt und darin seinen Höhepunkt findet, den ›Südstaatlern‹ bei schaurigen Nachahmungsversuchen zuzuhören. Regelmäßig kommt dann ein atemloses »I kanns net«. Besonders freuen sich Ärzte-Fans. Da pustet dann so ein wenig Großstadtflair in die Kleinstadt, wenn so eine reden kann wie die Lieblingsrockband. Da wird doch die WG glatt ein wenig aufgemotzt.