von Mario Keßler, New York
Sein kleines Haus im Landstädtchen Scarsdale im Staat New York stand Besuchern weit offen. Da sein Gehör wie sein Sehvermögen stark nachgelassen hatten, war er um so mehr auf den geistigen Austausch des Gesprächs angewiesen, obgleich er zuletzt noch einen Aufsatz für einen deutschen Sammelband beigesteuert hatte: der Politikwissenschaftler John H. Herz (1908-2005). Er gehört zu jenen ab 1933 aus Deutschland vertriebenen Denkern, die ihr neues Heimatland, die USA, so sehr bereicherten, daß sich dessen Geistes- und Kulturgeschichte ohne ihr Wirken nicht erzählen läßt. Dieser Meinung waren auch viele seiner amerikanischen Kollegen: Das Graduate Center der City University of New York ehrte jetzt ihr am 26. Dezember 2005 verstorbenes langjähriges Fakultätsmitglied mit einem Gedenkkolloquium. An ihm nahmen über fünfzig Wissenschaftler teil, darunter viele Freunde und Schüler des Verstorbenen.
Das Jahrhundert der Katastrophen und Epochenbrüche hat er zur Gänze durchmessen, sagte Jack Jacobs, einer der jüngeren Professoren des Graduate Centers, der Herz’ Lebensweg schilderte. In Düsseldorf geboren, wuchs Hans Hermann Herz in einer großbürgerlichen, scheinbar assimilierten jüdischen Familie auf. Dort erlebte der hochmusikalische Herz Hausmusik der feinsten Art. Im Elternhaus spielten die Pianisten Edwin Fischer und George Szell.
In Düsseldorf besuchte Herz die Hindenburgschule. Doch dem Namenspatron, dem der Weltkrieg wie eine Badekur bekommen war, stand der junge Herz kritisch gegenüber und orientierte sich politisch links. Anders als ein Klassenkamerad, der zum lebenslangen Freund wurde (und mit dem er weitläufig verwandt war), blieb Herz jedoch der Botschaft des Kommunismus gegenüber skeptisch eingestellt. Auch dieser Freund entfernte sich alsbald von der KPD, ohne aber seine sozialistischen Ideen jemals aufzugeben, auch nicht als international herausragender Kommunismusforscher. Sein Name war Ossip Kurt Flechtheim.
Nach dem Abitur ging Herz wie Flechtheim zum Jurastudium nach Freiburg, später nach Heidelberg und Berlin. Schließlich wurde Herz 1931 in Köln zum Dr. jur. promoviert.
Zwei Jahre später vertrieben die Nazis auch Herz aus Deutschland. Sein Kölner Lehrer Hans Kelsen, der nach Genf emigriert war, holte ihn genauso wie Flechtheim an das dortige Hochschul-Institut für Internationale Studien, einer Forschungseinrichtung des Völkerbundes. Unter dem aus dem Nazireich exilierten jungen Wissenschaftlern, denen das Genfer Institut die Fortsetzung ihrer Forschungen ermöglichte, befanden sich auch der Historiker Ernst Engelberg und der Literaturhistoriker Hans Mayer, die nach 1945 an die Universität Leipzig berufen wurden. In Genf schrieb Herz unter dem Pseudonym Eduard Bristler sein Buch Die Völkerrechtslehre des Nationalsozialismus, das 1938 erschien.
Unmittelbar darauf gelang Herz die Emigration in die USA, zunächst mit Hilfe eine Einladung nach Princeton. Über seine amerikanischen Jahrzehnte berichteten unter anderem Thomas Karis, nach Flechtheim wohl Herz’ engster Freund. Ralph Bunche, 1941 Leiter der politikwissenschaftlichen Abteilung an der Howard University in Washington (und später Diplomat und Friedensnobelpreisträger), holte Herz an die wichtigste Lehranstalt für Afroamerikaner in den USA.
»Die helfende Hand, die schwarze Hochschulen und schwarze Gelehrte damals den jüdischen Flüchtlingen boten, sollte gerade in einer Zeit schwieriger Beziehungen zwischen Schwarzen und Juden nicht vergessen werden«, schrieb Herz in einem Leserbrief, den die New York Sunday Times am 3. April 1994 druckte. Dieser Leserbrief und das überaus informative Buch von Gabriella Simon-Edgecomb über deutsch-jüdische Flüchtlinge an schwarzen Hochschulen gab den Anstoß für Stephen Fischlers Film From Swastika to Jim Crow. Fischler, der auch einen Dokumentarfilm über Anne und John Herz produzierte, sprach ebenfalls auf der Gedenkveranstaltung. Anne Herz, auch sie aus Deutschland vertrieben, starb im Jahre 2003. Doch Herz’ Sohn Stephen sowie drei Neffen und weitere Verwandte waren dabei, als des bedeutenden Wissenschaftlers gedacht wurde.
Wie viele andere deutschsprachige Hitlergegner ging John Herz im Zweiten Weltkrieg zum Office of Strategic Services (OSS), jener geheimdienstlichen Abteilung, die zur Analyse von Politik, Wirtschaft und Propaganda des Nazismus gegründet worden war. Darüber berichtete Benjamin Rivlin, der ihm seitdem ein Freund wurde.
Nach Kriegsende arbeitete Herz als Politikberater bis 1948 für das State Department, das US-Außenministerium. Danach kehrte er an die Howard University zurück, wechselte aber 1952 an das City College nach New York. Dort wurde er 1960 zum Professor ernannt. Zu Beginn der sechziger Jahre hatte er die Chance auf eine Berufung an die Freie Universität Berlin. Da sein Sohn aber die Schule in den USA besuchte und er ihm nicht den Wechsel in eine neue Sprache und Kultur zumuten wollte, verzichtete Herz. Statt dessen wurde Richard Löwenthal, damals Journalist in London, nach Westberlin berufen. Stephen Herz ließ sich später in Europa, im schweizerischen Thun, nieder.
John Herz schrieb eine Reihe von Büchern, von denen Lili Flechtheim, die Frau seines Freundes Ossip, einige ins Deutsche übersetzte: Weltpolitik im Atomzeitalter (1961), Regierungsformen des 20. Jahrhunderts, mit Gwendolen M. Carter (1962), Staatenwelt und Weltpolitik (1974). Nach der Emeritierung 1977 widmete er sich seiner Autobiographie, die 1984 unter dem bezeichnenden Titel Vom Überleben. Wie ein Weltbild entstand in seiner Geburtsstadt Düsseldorf erschien.
John Herz bedauerte nicht, daß er in den USA geblieben war, obgleich er die Politik der Regierung immer kritischer sah, je älter er wurde. »Dieses Land, auf das man früher doch einige Hoffnungen setzen konnte, wird mir immer widerlicher«, schrieb Herz im Februar 1985 an Ossip Flechtheim. Präsident Reagans antikommunistische Hetze werde von den Leuten blindlings geglaubt. »Am übelsten sind die neokonservativen Juden um den ›Commentary‹ herum (die sich Democrats nennen) – Democrats der traditionellen, liberal-progressiven Sorte gibt’s kaum noch.«
Herz, der nie Marxist war, blieb der Idee des demokratischen Sozialismus immer verpflichtet. Wo ist die Gesellschaft, die Freiheit und Gerechtigkeit, Beseitigung des Hungers, nukleare Abrüstung und Umweltschutz miteinander vereinbaren kann?, fragte er den Autor dieser Zeilen. Ich werde sie nicht mehr sehen, aber du und die Wissenschaftler einer noch jüngeren Generation, ihr müßt dafür arbeiten.
Er winkte lachend ab, als ich ihm sagte, bis zu seinem 100. Geburtstag im September 2008 halte die Weltgeschichte vielleicht noch manch gute Überraschung bereit – und dann gebe es einen doppelten Grund zum Feiern. Leider wird er dieses Jubiläum nicht begehen können. Doch vergessen wird man ihn nicht.
Schlagwörter: Mario Keßler