von Detlef Kannapin
Im Oktober 2005 schrieb der Filmpublizist Hans-Jörg Rother anläßlich der mißglückten Konrad-Wolf-Biographie von Wolfgang Jacobsen und Rolf Aurich in der FAZ, daß in bezug auf die DDR die Irrtümer hinlänglich beschrieben seien, und es gelte, das Bleibende zu finden. Da will einer, wie so viele, nicht mitmachen.
Wolfgang Gersch, einst verdienstvoller Mitherausgeber der deutsch-deutschen Gesamtausgabe von Bertolt Brechts Werken sowie von wichtigen Schriften des deutsch-ungarischen Filmkritikers Béla Balázs, ein ehemals führender Kunstkritiker der DDR und nach der Wende Ministerialbeamter, hat noch einmal zur Abrechnung geblasen. Thema: die Spielfilme der DEFA.
Ich erlebte Gersch Mitte der neunziger Jahre auf einem Podium zur Filmveranstaltung Gemeinsam sind wir trivial im Kino Arsenal in Berlin. Damals logierte die anspruchsvolle Filmstätte noch am Wittenbergplatz. Gezeigt wurden zwei Kriminalfilme aus den sechziger Jahren, einer Deutschland West, einer Deutschland Ost. Den Westfilm habe ich vergessen. Die DEFA-Produktion hieß Seilergasse 8, ein kleiner, aber feiner Film, der neben mehreren damals üblichen antiwestlichen Stichen auch ein paar Mißstände der DDR-Gesellschaft ansprach. Am Ende des Films wird der kriminelle negative Hauptheld von der Polizei daran gehindert, in den Westen zu gehen. Diese Szenen sind dramatisch arrangiert und symbolisch mit Zaunmetaphern aufgeladen, was die Vergeblichkeit des Fluchtversuches suggerieren soll. Über die ästhetische Relevanz dieses Schlusses ließe sich streiten. Aber Gersch meinte in der anschließenden Diskussion tatsächlich, dieses Finale weise faschistoide Züge auf, was nun eindeutig nicht stimmt. Im Gegenteil, die Aussage war eher ein Hinweis auf die historische Verschwommenheit von demjenigen, der sie tätigte, und ging den Film rein gar nichts an.
Unerkannterweise saß im Zuschauerraum des Arsenal der spätere Vorstand der DEFA-Stiftung, Wolfgang Klaue. Während meiner Tätigkeit in der Stiftung kamen wir auch auf Gersch zu sprechen. Klaue meinte, nun ja, das sei fast ein Jahrzehnt her und man könne darauf vertrauen, daß Wolfgang Gersch wieder differenzierter argumentieren würde. Im übrigen arbeite Gersch seit einiger Zeit an einer realistischen Geschichte des DEFA-Spielfilms, und dann werde man sehen.
Inzwischen kann man sehen. Der Aufbau-Verlag hat zu einem unverschämten Preis die Auffassungen von Wolfgang Gersch über die DDR und ihre Filme passend zur diesjährigen Berlinale in einem Taschenbuch mit dem Titel Szenen eines Landes herausgebracht. Das Ergebnis ist nicht enttäuschend, es ist erschütternd. Weit entfernt vom eigenen Anspruch des Autors im Vorwort, ein Entwicklungsbild politischer Strömungen und Denkmuster anhand der DEFA-Filme zu zeichnen und dabei von der Wirklichkeit auszugehen, ergießt sich die Auseinandersetzung in einer stromlinienförmigen Vorverurteilung. Die knappen Beschreibungen von vierzig Jahren DDR-Film sind nicht mehr als eine Instant-Variante, da jeder Film höchstens drei Druckseiten bekommen hat, von denen die Meinung des Interpreten spätestens nach vier Zeilen Inhaltsangabe dem Leser entgegengeschleudert wird.
Im Hirn des Rezipienten bleibt vor allem hängen, daß der Versuch, aus der unheilvollen deutschen Geschichte sozialistisch auszubrechen, von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Eine verlorene Alternative, wie Gersch es bereits 1993 in einer anderen Abhandlung zur DEFA nannte, wobei ihm der logische Widerspruch, der sich so anhört wie öffentlicher Verrat, überhaupt nicht auffiel. Die Schieflagen der Interpretation von Gersch nötigen eigentlich zu einem Gegenbuch, so viele Mißgriffe stecken da drin. Ich belasse es bei zwei Beispielen.
Beide betreffen Konrad Wolf, den man unbedingt vor seinen neudeutschen Ausdeutern beschützen muß. Professor Mamlock sei laut Gersch nur Thesenbebilderung und kommunistische Ideologisierung. Der geteilte Himmel, einer der besten DEFA-Filme überhaupt, wirke heute eher quälend, weil sich in ihm politische Lehre und Religiosität nahekämen. Nein! Bei beiden Filmen kann man bestimmt Mängel entdecken, die Intention jedoch, Denkanstöße sowie historische und gegenwärtige Aufklärungsarbeit zu liefern, ist den Filmen als nicht hoch genug einzuschätzendes Verdienst anzurechnen. Ein holpriger Mamlock und ein parteilicher Geteilter Himmel sind allemal nützlicher als die heutigen Freispruchanlagen des Faschismus à la Untergang.
Es gibt vieles auszusetzen an der DEFA, aber nicht die Tatsache, daß die Filmleute Filme in der DDR für die DDR gemacht haben. Wolfgang Gersch interessiert das Bleibende nicht. Er walzt genüßlich erneut die Irrtümer der DDR in einer Terrordiktion aus, die vermutlich einem inneren Ressentiment geschuldet ist, das den Gegenstand der Erinnerung, um den es dringend zu gehen hätte und der vor allem die parallele deutsche Nachkriegsgeschichte in den Blick nehmen müßte, so vollständig verfehlt, als wollte der Erbauer des Lichtbildes DDR sich selbst ein Denkmal im retrospektiven Widerstand setzen.
Gefehlt hätte nur noch, daß Gersch die DDR zwischen Anführungszeichen stellt oder die Legende wiederholt, die Gründung der DEFA sei im Auftrag von Stalin erfolgt. So oder so, sein Buch hat das Niveau der verblichenen Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland und damit einen Erkenntniswert, der mehr als fragwürdig ist. Es handelt sich um eine erschlichene Versöhnung mit sich selbst und dem wieder erwachten Stolz aufs Bürgertum, genährt von der Ratlosigkeit unseres Zeitalters und ohne Impulse des guten Willens zur Verbesserung der gegenwärtigen Gesellschaft.
Daß jemand aufgegeben hat, ist eine nicht zu kritisierende individuelle Entscheidung. Daß jemand diese Entscheidung als Ratgeber für die Zukunft der Vergangenheit verkauft, ist würdelos.
Wolfgang Gersch: Szenen eines Landes. Die DDR und ihre Filme, Schriftenreihe der DEFA-Stiftung, Aufbau-Verlag Berlin 2006, 240 Seiten, 24 Abbildungen, 22,90 Euro
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