13. Jahrgang | Nummer 13 | 5. Juli 2010

Der Intellektuelle verrät sich allemal. Anmerkungen zu einem Kampfbegriff

von Jens-Fietje Dwars

Fakten, Fiktionen, Folgen von Verrat in der Arbeiterbewegung sollen hier und heute zur Debatte stehen. Ich befürchte, daß ich dazu nichts Rechtes beitragen kann. Der Titel erinnert fatal an das Motto einer Illustrierten, die mit „Fakten, Fakten, Fakten“ um Millionen Leser wirbt. Das ist der Geist des Informationszeitalters, das den Glauben schürt, die bloße Information, die nackte Nachricht, das Faktum allein schon habe einen Wert. Und das Fatale daran: immer mehr Leute, deren Beruf es sein sollte, das Zeitmaterial geistig zu bearbeiten, nehmen den Rohstoff, wie sie ihn finden und geben ihn als ihr Produkt aus.
Gerade unter den Linken dieser Zunft grassiert die Versuchung, mit dem Faktischen das rapide sinkende Urteilsvermögen der Leute zu bestechen, als sei der Lärm geballter Daten schon eine Geistestat. Da werden die Schattenseiten der eigenen Geschichte mit sonderbarem Eifer grell ausgeleuchtet, da überbietet man einander im Aufzählen der Opfer, im Entlarven übler Täter und gewissenloser Verräter, und wundert sich am Ende nur, daß der bürgerliche Wissensbetrieb diesen Aufwand nicht mit akademischen Ehren lohnt.
Doch so funktioniert der Betrieb seit Jahrzehnten: mehr oder minder entlarvende Fakten werden ausgegraben und im Glanz modisch wechselnden Methoden präsentiert. Wissen als Ware, haben wir diesen Zusammenhang schon vergessen? Und vor allem: wollen wir wirklich damit konkurrieren? Wäre es nicht sinnvoller und folgenreicher, den eigenen Beruf radikal ernst zu nehmen, vielleicht sogar als Berufung?
Die Aufgabe des Intellektuellen ist nicht das Sammeln von Fakten, sondern ihre Auflösung, ihre Ergründung in einem Komplex von Zusammenhängen. Der Intellektuelle hat Deutungen zu schaffen, Angebote zum Verstehen, eben weil das Faktum, das scheinbar Selbstverständlichste der Welt, sich nicht von allein versteht, sobald wir es seiner verdinglichten Form als Ware oder Waffe im Konkurrenzkampf entkleiden.
War denn überhaupt diese Aufgabe gemeint, als man wider den Verrat der Intellektuellen im Osten zu Felde zog, als das Feuilleton des Westens in den neunziger Jahren zum Abschlachten jener Autoren blies, die es bis dato noch als kritische Geister gefeiert hatte? Von Volker Braun über Heiner Müller bis zu Christa Wolf – sie alle wurden utopieseliger Verblendung überführt, da sie eine Vereinigung mit dem Segen der Deutschen Bank nicht für das letzte Wort der Geschichte hielten. Als man den Rausch der Hochzeitsnacht ausgeschlafen hatte und das ungleiche Paar sein Alltagselend im Spiegel zerscherbter Hoffnungen gewahrte, da war das Gezeter verstummt. Sogar Preise erhielten sie wieder, die Vorzeigelinken, und selbst Bayern begann sich mit Brecht zu schmücken, während die Intellektuellen immer leiser wurden und der Staat mit vereinten Kräften in den Krieg zu ziehen begann.
„Der Verrat der Intellektuellen“, das ist die deutsche Übersetzung eines schmalen Buches, eines Pamphlets von Julien Benda, das 1927 unter dem Titel „La trahision de clercs“ erschien. In Frankreich war die Streitschrift ein Schlüsselwerk der Zwischenkriegszeit, in Deutschland vergingen 50 Jahre bis zur ersten Auflage in einem unscheinbaren Taschenbuch. Ein merkwürdiges Zeichen für die kulturellen Unterschiede der beiden Nachbarstaaten.
Das Buch enthält nur eine einzige These, jedoch in vielen Varianten: Die „clercs“, die Männer des Geistes, bildeten von Alters her eine Kaste, einen Stand, dessen Berufung es sei, die Ideale der Menschheit zu wahren – Freiheit, Gerechtigkeit, Humanität und Vernunft. Intellektuelle als Nachfahren der Priester, als Verkünder und Wahrer grundlegender Werte, die sich aus den Parteiungen des Lebens und ihrer Kämpfe untereinander heraus halten müssten, um eben jenen Kämpfen erst ein menschliches Maß zu setzen, damit der Mensch als Gattung sich nicht selbst zerfleische.
Keine weltfremden Träumer, sondern Ringrichter, die die Regeln aufstellen oder vielmehr die Einhaltung bislang gültiger Regeln durch die Kontrahenten sicherstellen. Eine dieser Regeln oder Grundwerte war für Benda die Achtung vor dem Gegner in Kriegszeiten, ohne die man auch die Selbstachtung verliere und in einer Welt voller Feinde zum Barbaren verkomme.
Zu seinem Entsetzen sah er, wie sich die Intellektuellen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr zu Vertretern partikularer Interessen erhoben und damit in Wahrheit erniedrigten: Als Sprecher von Nationen, Rassen, Klassen oder politischer Parteien im Kampf gegen andere Parteien, Klassen, Rassen oder Nationen machten sie sich einen Namen im Tagesgeschäft, vergaßen aber darüber ihre Jahrhunderte währende Verantwortung vor dem Geist, ihr Amt als Verteidiger „ewiger und interessefreier Werte“.
Darin bestand für Benda der Verrat der Intellektuellen, dass sie universelle geistige Werte zugunsten der Durchsetzung materieller Teilinteressen aufgaben, daß sie die Theorie an die Praxis verkauften, sich als Agitatoren der jeweiligen Bewegung verdingten. Und dieser Verrat begann für ihn bereits dort, wo der Intellektuelle Partei ergreift, um sein Ideal der Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt zu verwirklichen. Denn die Praxis des Theoretikers sei seine Theorie und nicht deren politische Umsetzung. Anderenfalls liefere man sich den Machern aus, deren Aktionen alle Maße umwerfen, statt ihr Handeln an übergreifenden Kriterien zu messen.
Aber auch ihm kamen Zweifel, ob nicht die Menschheit nur ihr Gesetz der Weltaneignung vollziehe und die Hochschätzung geistiger Güter eine Anmaßung von Stubenhockern sei. Dann werde ein Imperialismus der ganzen Spezies folgen, „vereint in einer riesigen Armee, in einer immensen Fabrik, mit nichts mehr im Sinn als Heroismus, Disziplin und Erfindergeist“, mit keinem anderen Gott mehr als sich selbst und dem Eigenbedarf. Eine Brave New World, wie sie Aldous Huxley zur selben Zeit kommen sah.
In dem Augenblick, da sich der Faschismus anschickte, diese Utopie zu verwirklichen, warf Benda den Andersdenkenden, den politisch engagierten Intellektuellen, nicht mehr Verrat vor, sondern mutete ihnen zu, ihr Anderssein geistig zu bestimmen. Auf dem Pariser „Kongreß zur Verteidigung der Kultur“ stellte er 1935 sein eigenes Konzept radikal in Frage. Es sei nötig, sich über die Differenz von abendländischer und kommunistischer Kulturauffassung zu verständigen. Die abendländische wolle glauben, daß der Intellekt von der Ökonomie unabhängig sei. Sie lehre den Menschen zu achten, der einzig vom Geist lebe. Dem entspeche eine Kunst mit eigenem Thema, Ton und Publikum: In „unmenschlich“ gehobener Sprache stelle sie Luxusleidenschaften einer Menschheit dar, deren materielle Bedürfnisbefriedigung vorausgesetzt werde. – Selbst in dieser Kultur verwurzelt, bat Benda, die gleichen Unterscheidungen für die Eigenart derer zu treffen, die noch um ihr täglich Brot zu ringen haben. Werde sie mit seiner Kultur brechen oder sie fortsetzen?
Das war ein Akt ungeheurer Redlichkeit: ein Markieren des eigenen Schattens, über den man nicht springen, aber die Hand zur Verständigung reichen kann. Doch keiner der über 800 Konferenzteilnehmer und Gäste ist 1935 auf das Dialogangebot eingegangen. Dabei hätte man zeigen können, daß Lenin mit Marx von der Spannung zweier Kulturen in jeder Klassengesellschaft ausging, aber zugleich die proletkultische Entgegensetzung zur bisherigen Menschheitskultur zu überwinden bestrebt war.
Nur kannten selbst Marxisten kaum die originären Gedanken ihrer Klassiker, in deren Namen sie zu handeln glaubten, und hofften die Intellektuellen des Westens, die Sowjetmacht im Osten würde im Widerstand gegen Hitler den Humanismus verteidigen, den sie in den bürgerlichen Demokratien längst vom Geschäftsgeist ausgehöhlt sahen.
So kamen weder die Differenzen der Kulturen zur Sprache, noch deren mögliche Einheit, die nur im Austragen dieser Unterschiede gründen kann und tatsächlich gründet: im tagtäglichen Neben- und Gegeneinander, dessen unbewußt-faktischer Wildwuchs uns von Zeit zu Zeit als Schreckensnachricht verunsichert. Alarmsignale, die den Intellektuellen an seine vornehmste Aufgabe erinnern: ein Wanderer zwischen den Welten zu sein, ein Übersetzer, der die Eigenart des anderen, des Fremden verstehbar macht.
Dafür aber muß er selbst verständlich sein, ohne gemein zu werden. Er braucht die Distanz, um den Dingen näher zu kommen. Und er braucht die Autonomie, um sich einzumischen. Dieser Intellektuelle ist unbequem, Einsamkeit der Preis seiner Haltung. Er verrät niemanden, außer sich selbst: seine Sehnsucht nach Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt, die auszuhalten bleibt, ohne den Heilsanspruch einer erlösenden Klasse, Rasse, Nation, Gott oder Wahrheit.

Dieser Text ist Bestandteil des empfehlenswerten Essaybandes „Verrat“, der 2009 bei dietz berlin erschienen ist. Herausgeber: Simone Barck und Ulla Plener. Mit dem gleichen Thema beschäftigt sich der Autor zudem in dem von ihm herausgegebenen Band „Charivari. Essay, Glossen und andere Merkwürdigkeiten“, der in der Edition Muschelkalk Bd. 25 im Wartburg-Verlag erschienen ist, darunter auch mit einer Auswahl von Dwars´ Texten für das Blättchen sowie Intellektuellen-Porträts von Klopstock über Nietzsche, Becher, Benn und Harry Graf Kessler bis Günter Eich.