Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. März 2006, Heft 6

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von Frank Ufen

Als der amerikanische Neurologe Harold Klawans noch ein blutjunger Assistenzarzt war, bekam er es mit einem merkwürdigen Fall zu tun. Eines Tages tauchte in seiner Praxis ein Mann namens Knut Jakobsen auf, der gleich von mehreren schweren Störungen geplagt wurde: Sein Sehvermögen war erheblich beeinträchtigt, taktile Reize nahm er ebenso wenig wahr wie die Schwankungen der Außentemperatur, er konnte sich nur noch schlurfend und torkelnd fortbewegen, und er hatte eine derb-schuppige, fischartige Haut. Klawans fand schließlich heraus, daß sein Patient unter dem seltenen Refsum-Syndrom litt, wußte allerdings nicht, was er dagegen unternehmen sollte. Zum Glück lernte er bald darauf Professor Sigvald Refsum, den Entdecker dieser Krankheit, kennen. Refsum brauchte dann nur ein längeres Gespräch mit Jakobsen zu führen, um der Sache auf den Grund zu kommen. Jakobsen, stellte Refsum fest, war ein Mann, dessen Lebensgewohnheiten ebenso ungewöhnlich waren wie seine Eßgewohnheiten. Er hauste einsiedlerisch in einer Blockhütte in der Wildnis und lebte davon, alles zu verkaufen, was er als Fischer und Jäger erbeutete. Er selbst haßte jedoch Fisch und Fleisch und ernährte sich fast ausschließlich von Blattgemüse, Nüssen und tierischen Fetten. Damit hatte Refsum die Ursache des Übels identifiziert. Jakobsen litt an einer genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung. Weil die ungeheure Menge an Phytansäure, die in seiner Kost steckte, von seinem Stoffwechsel nicht mehr verarbeitet werden konnte, reicherte sie sich in der Netzhaut, in den Nervenzellen und in der Haut an. Jakobsens Zustand besserte sich deutlich, nachdem er seine Ernährung umgestellt hatte. Schlecht war es während des Zweiten Weltkriegs hingegen den Norwegern ergangen, bei denen Refsum die Krankheit erstmals diagnostiziert hatte. Damals hatten die deutschen Besatzer der norwegischen Bevölkerung eine vegetarische Mangeldiät aufgezwungen. Und so hatte die Refsum-Krankheit leichtes Spiel.
Klawans’ Buch ist weit mehr als eine Sammlung exemplarischer Fallgeschichten über Parkinson, Aphasie, Dyslexie, Epilepsie, Chorea Huntington, Creutzfeld-Jacob, Landau-Kleffner oder Alzheimer. Klawans befaßt sich mit den Ursachen und Auswirkungen dieser Krankheiten, und er erklärt, was ihre Genese mit der Evolutionsgeschichte des menschlichen Nervensystems und Gehirns zu tun hat. Der Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist dabei die Einsicht, daß der entscheidende Vorteil und Nachteil des menschlichen Gehirns darin bestehe, daß es außerhalb des Mutterleibs noch lange weiterwächst und den Großteil seiner Fähigkeiten erst in und durch Interaktionen mit der Umwelt erwirbt. Klawans wirft in diesem Zusammenhang Fragen auf, die selten gestellt werden: Welchen evolutionären Sinn hat es, daß die Plastizität des menschlichen Gehirns nach der Pubertät stark nachläßt und daß grundlegende Fähigkeiten wie das Sprechen nur in bestimmten Phasen der kognitiven Entwicklung erworben werden können? In welcher Weise hat die Erfindung der Schrift das Gehirn verändert, und wie gehen Analphabeten mit Informationen um? Oder: Warum ist der Mensch das einzige Säugetier, das an Parkinson erkranken kann?
Ein brillantes Buch.

Harold Klawans: Die Höhlenfrau, die Sprache und wir. 13 merkwürdige Geschichten über das Gehirn, Klett-Cotta Stuttgart, 255 Seiten, 19,50 Euro