von Wolfram Adolphi
Das ist schon seltsam: So gewaltig die Ereignisse »Wende« und »Wiedervereinigung« gewesen sind, so gewaltig sind die Unklarheiten darüber, wie das eigentlich wirklich alles vonstatten ging. Meint jedenfalls – und steht damit ganz gewiß nicht allein – der Journalist Ferdinand Kroh mit seinem Buch Wendemanöver, und die Argumente und Beispiele, die er präsentiert, zeigen, daß er den Finger direkt in der Wunde hat: Bis sie tatsächlich geschrieben werden kann, die Geschichte der Jahre 1989/90, müssen noch viele Karten aufgedeckt werden.
Vor allem – ist sich Kroh sicher – in den USA und Rußland. Denn in Washington und in Moskau hätten diejenigen gesessen, die – ganz anders als die Entscheidungsträger in Bonn – bereits seit Beginn der achtziger Jahre energisch und zielbewußt auf die Beendigung der Teilung Deutschlands gedrungen hätten. Diese Teilung habe beide – die Herrschenden in den USA sowohl wie auch die in der Sowjetunion – am für sie Wichtigsten gehindert: den Kalten Krieg zu beenden. Womit sie zwar genau Entgegengesetztes erreichen wollten – Washington den Fall des Sowjetimperiums und Moskau die Rettung desselben –, aber egal: Die deutsche Zweistaatlichkeit sei beiden gleichermaßen zur Last geworden.
Und zwar zu einer so großen, daß mit dem Ziel, sich ihrer zu entledigen, sogar gemeinsame Geheimdienstprojekte möglich geworden seien. Die Operation Gawrilow zum Beispiel, über die bis heute konsequent der Mantel des Schweigens gebreitet werde, obgleich sie doch wesentlich dazu beigetragen habe, daß die Sowjetunion, ohne einen Schuß abzufeuern, »im Bett stirbt«, wie es Condoleezza Rice im Dezember 1997 in einer Befragung des Londoner Kings College einmal formuliert habe. Seit Beginn der achtziger Jahre hätten sich in dieser Operation Spitzenleute von CIA und KGB getroffen, um »operative Probleme zu besprechen« und »Unklarheiten zu bereinigen«, was unter anderem dazu beigetragen habe, daß Gorbatschow schon lange vor dem März 1985, als er zum KPdSU-Generalsekretär gewählt wurde, im Westen als der kommende Mann an der sowjetischen Spitze erkannt und akzeptiert worden sei.
Aber auch in den damaligen Bonner Regierungskreisen – so Kroh weiter – tue man sich schwer, mit der Wahrheit herauszurücken, und das macht den Autor nur um so mißtrauischer. Warum, so fragt er, war sich »keiner der für dieses Buch interviewten deutschen Entscheidungsträger zu schade zu beteuern, er habe von dem, was sich seit 1986 ankündigte, keinen blassen Schimmer gehabt«? Warum ließen Horst Teltschik und Wolfgang Schäuble, die »großen Strategen des Bundeskanzleramtes«, die »Vordenker des ›Kanzlers der Einheit‹«, keine Gelegenheit aus, »zu betonen, wie sie von der Geschichte angeblich überwältigt wurden«? Warum möchten sie lieber »als Gespürlose, Blinde und Taube der Zeitgeschichte« dastehen, statt »an der Aufklärung einer zehnjährigen Geheimdiplomatie mitzuwirken, an der sie mit Sicherheit teilgenommen haben«?
Kroh fördert eine Menge von Gründen zu Tage, die dieses allüberall herrschende Schweigen verständlich werden lassen, und er nutzt dafür – was ja längst noch nicht selbstverständlich ist – nicht nur all das, was »ordentliche« Wissenschaft und etablierter Journalismus in jüngster Zeit zum Thema zu sagen hatten, sondern auch Bücher der östlichen »Ehemaligen« wie etwa das Länderspiel von Jürgen Nitz oder den Drahtzieher von Klaus Eichner und Ernst-Jürgen Langrock, den Countdown zur deutschen Einheit von Detlef Nakath oder Das letzte Jahr der DDR, das vor zwei Jahren Stefan Bollinger herausgegeben hat.
Und so macht er Verbindungslinien sichtbar zum Beispiel zwischen der Unfähigkeit der UdSSR, die DDR mit genügend bezahlbarem Erdöl zu versorgen, und der Strategie von US-Präsident Ronald Reagan, den Kommunismus »auf den Aschehaufen der Geschichte« zu befördern; zwischen dem Milliardenkredit des Franz-Josef Strauß von 1983 und dem Rosenheimer Kreis der »Mauergewinnler«, die das Leben der DDR verlängern wollten, weil sich mit ihr so wunderbare Geschäfte machen ließen; zwischen dem Abhörcoup, den die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS 1985 auf dem Westberliner Teufelsberg landen konnte, und der Abrüstungsbereitschaft des Michail Gorbatschow in Reykjavik; zwischen der gezielten – und freilich streng geheimen – Freigabe von Großrechnerverkäufen aus den USA an den Ostblock durch die CIA 1987 und dem damit nach Art eines Trojanischen Pferdes gewonnenen umfassenden Lauschangriff; zwischen der Prophezeiung der USA im Mai 1988, die Mauer werde im Herbst 1989 fallen, und dem Wirken des Botschafters Vernon Walters ab Frühjahr 1989 in Bonn.
Ausführlich zu Wort kommen läßt Kroh nach Interviews nicht nur die bekannten Protagonisten des sowjetischen Kurswechsels in Richtung deutsche Einheit wie Walentin Falin und Wjatscheslaw Daschitschew oder den »Vater« des Wandels durch Annäherung Egon Bahr, sondern auch den seinerzeit dramatisch in Ungnade gefallenen BRD-Beauftragten des SED-Politbüros Herbert Häber, den – im Buch insgesamt doch ein wenig überschätzten – Hermann-Axen-Adlatus Manfred Uschner, den MfS-Hightech-Spezialisten Oberst Gerd Dreyer oder auch den US-Diplomaten Jerry Bindenagel, der Erhellendes über die Zusammenarbeit seiner Botschaft mit den DDR-Oppositionellen zu berichten weiß.
Zu erfahren ist weiter höchst Interessantes über das Projekt Swesda (Stern), mit dem »ein Ostblock-Braintrust die Wende plante«, und über den »Geheimdienst im Geheimdienst«, die Einheit Lutsch (Strahl) im KGB, mit der die Sowjetunion-Freundlichkeit der DDR gesichert werden sollte und in der auch Rußlands heutiger Präsident Wladimir Putin von Dresden aus wichtige Fäden gezogen haben soll. (Daß Kroh »Luch« schreibt, hat er der unkritischen Übernahme des Wortes aus dem Englischen zu verdanken – aber wer kümmert sich heute schon um Umschriften aus dem Russischen?) Und dann sind da auch noch die Überlegungen zum »besonders brisanten Aspekt« der »wahrscheinlichen Instrumentalisierung der Terroristenorganisation RAF im Falle der Attentate auf den Direktor im Auswärtigen Amt Gero von Braunmühl, den Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen und den Treuhandchef Karsten Rohwedder, die im Zusammenhang mit dem Wendegeschehen stehen«.
Wären die besagten Karten offengelegt, so könnten – da ist sich Kroh sicher – »der Westen wie die ehemaligen Sowjets (…) den Eindruck schwer vermeiden, daß die Wende keineswegs nur eine Sache von Reformern, Bürgerrechtlern und Perestroikianern war, sondern vor allem das Resultat konspirativer und geheimdienstlicher Wühlarbeit«.
Mit dem »vor allem« wäre ich vorsichtig. Aber eines erhellen Krohs Untersuchungen ganz sicher: warum sie alle – die Reformer, Bürgerrechtler und Perestroikianer – schon im Frühjahr 1990 nur noch am Rande aller Entwicklungen standen. Und die Ernte die anderen einfuhren.
Ferdinand Kroh: Wendemanöver. Die geheimen Wege zur Wiedervereinigung, Carl Hanser Verlag München-Wien, 343 Seiten, 19,90 Euro
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