von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Polit-Theater mit einem Massenmörder, mit modernen Tempelrittern, Badearzt Stockmann, märkischem Landadel und nackten Männern.
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Kein Menschenauflauf, keine Polizeipräsenz. Idyllische Stille in Berlin nachts um neun gleich hinterm Alexanderplatz in der Klosterstraße vorm Theaterdiscounter. Dabei hätte man Politaktivisten aller Farben erwarten können, die vor dem respektablen Off-Betrieb in der leer geräumten Ex-Telefonzentrale der DDR-Regierung demonstrieren. Entweder für oder gegen die vom Schweizer Regisseur Milo Rau eingerichtete Lesung der Verteidigungsrede des norwegischen Massenmörders Anders Breivik. Der rechtsextreme Terrorist hatte sie am 17. April vor dem Gericht in Oslo gehalten. Ihr ostentativ kaugummikauender, mithin total untheatralischer Vortrag durch die deutsch-türkische Schauspielerin Sascha Soydan sorgte zuvor in Weimar für einen Eklat: Das Deutsche Nationaltheater verbannte ihn mit spitzen Fingern kurzfristig aus seinem Haus in ein Kino. Ein Riesenrummel brach aus ob dieser Vorab-Skandalisierung. Und verhinderte eine sachliche Auseinandersetzung mit Breiviks antidemokratisch-rassistischem Kampf-Manifest gegen die „schleichende Kolonisierung des Abendlandes durch Islam und Scharia“ („Erst beten sie, dann hacken sie uns die Hände ab.“). Die pseudowissenschaftlich aufgepumpte Philippika gegen durchaus real islamistische Gefahren für den Liberalismus eines laizistischen Staates mag sich decken mit den Ängsten sehr vieler hierzulande. Sie unter den Teppich zu kehren wäre folgenschwer für eine offene Gesellschaft, die Breivik „revolutionär“ abschaffen will, weil sie einem Sieg im Krieg gegen Dschihad und „kulturelle Überfremdung“ im Wege steht. Das zu verdrängen wäre tödlich für unser freiheitliches System.
Milo Rau (35) war Journalist, bevor er das so genannte Reenactment als packendes politisches Theaterformat etablierte. Das heißt: Künstlerische Rekonstruktion realer historischer Ereignisse; etwa den Strafprozess gegen das rumänische Diktatoren-Ehepaar Ceausescu 1989 oder die Kompilation einer Programmstunde des zynischen ruandischen Genozid-Hetzsenders RTLM. Solche Rekos könnten, meint Rau, etwas Distanziertes auf sehr komplexe Weise erfahrbar machen. Stimmt. Rau liefert Fakten, die dann zwingend zur Analyse führen im Kopf des Publikums. – Wie die kalt nüchterne Konfrontation mit Breiviks teils verführerisch-demagogischem Statement der nationalistisch-faschistischen Art. Eine Herausforderung für jedermann: Zur kritischen Selbstbefragung bezüglich kämpferischer Toleranz und demokratischem Grundverständnis.
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Der deutsch-jordanische Journalist Yassin Musharbash (Spiegel, Zeit) schrieb den brennend aktuellen Polit-Reißer „Radikal“. Da wird ein Integrationspolitiker der Grünen mit ägyptischem Hintergrund und Obama-Charisma in die Luft gesprengt, und prompt steht das Bekennervideo einer Al-Kaida-Gruppe im Netz. Behörden und Medien ermitteln. Und ein Verdacht erhärtet sich: Da haben elitär-rechtsradikale deutsche Kreise und sogar staatstragende deutsche Institutionen mitgemischt – „im Kampf gegen den Dschihad“. Radikale Islamophobe, die sich für moderne Tempelritter halten, und radikal vormoderne Islamisten, beide wähnen sich im Bündnis als politische Avantgarde und bekriegen in ihrem Hass auf die „lasche“ oder „obszöne“ Demokratie die aufgeklärte, auf Ausgleich programmierte Gesellschaft. Der 400-Seiten-Roman beschreibt diesen Krieg mit höchst kompliziertem Frontverlauf mit gleichermaßen komplexen Figuren. Doch in ihrer Adaption für die Bühne des Berliner Gorki-Theaters schrumpfen sie zu plakativen Ideenträgern, die sich Video-verspielt in verwirrendem Aktionismus verlieren. Die Breivik-Doku hingegen bohrt nervend tief ins Hirn. – Meine Empfehlung: Musharbashs Roman lesen!
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„Junkerland in Bauernhand“ war nach 1945 die nicht unpopuläre Losung der Bodenreform in der Sowjetzone Deutschlands. Also rücksichtslos raus mit dem Grundbesitzadel, der dann in die Westzonen Deutschlands floh. Nach 1990 sind einige der Nachfahren voller Heimweh und Gottvertrauen zurückgekehrt in die Heimat der Ahnen, haben ihr Vermögen zusammen gekratzt und ruinöse Immobilien (die teils auch restituiert wurden) sowie Land zurück gekauft. Sie kamen nicht als Eroberer, sondern als Neuanfänger. Als Aufbau-Pioniere und Partner der Alteinwohner in eine strukturschwache oder gar ganz am Boden liegende, depressive Region. Vorurteile wie allgemeine Not machten ihnen das neue Leben (in meist neuen Berufen) im Osten nicht leicht; immerhin hatten sie dafür ein gut situiertes Dasein im Westen aufgegeben. Inzwischen sind die Gräfinnen und Grafen anerkannt. Aufgrund ihrer aufopferungsvollen Hingabe, ihrer Aufbaukraft, die ihren zurück gewonnenen alten und verkommenen Besitz sowie viele verödete Landstriche auch in kulturell-gesellschaftlicher Hinsicht wieder zum Aufblühen brachte. Sie sind integriert als Leistungsträger. Eine anfangs ziemlich undenkbare (west-)ostdeutsche Erfolgsgeschichte, die in ihrer Schwere und Schönheit dokumentiert wird durch Martina Schellhorns menschlich sensible, historisch korrekte, also immer aufklärerische Ausstellung „Heimat verpflichtet. Märkische Adlige – eine Bilanz nach 20 Jahren“; großartig illustriert von Starfotograf Oliver Mark. In der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung Potsdam.
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Quer im Loft der meterlange Tisch für Laptops, Macchiato, Baby-Wickeln; und an den Wänden die Notizen über die voll cool alternativen Ideen vom letzten Brainstorming. So sieht’s aus bei aufsteigenden Jungakademikern wie den Stockmanns in hipper Großstadt-Mitte. Und wenn man mal nicht twittert, digital jobbt, Windeln wechselt oder salonrevolutionär rumphilosophiert, dann rockt man mit der Gitarre David Bowie. Die Selbstgefälligkeit einer so narzisstischen wie sinnsucherischen, linksliberalen Schlabberhosen-Mittelstandsjugend breitet Regisseur Thomas Ostermeier grinsend aus in Henrik Ibsens altem Polit-Thriller von 1882 „Ein Volksfeind“. Was sich wie die routiniert ironische Fortschreibung der Edel-Egotrips in Ostermeiers Ibsen-Hits „Nora“ und „Hedda Gabler“ anlässt, kriegt in der finalen halben Stunde seinen drastischen Dreh: Stockmann, Badearzt einer profitablen Kur-Therme, hat entdeckt, dass die Wasserquelle vergiftet ist. Der Stadtrat will die ruinöse Verseuchung vertuschen. Es kommt zum großen Krach zwischen Politik (Ingo Hülsmann mit Schlips und Sakko) und Medizin (Stefan Stern in Lederjacke, Schlabberjeans). Der Clinch wird – schlagende Idee! – überblendet mit dem aktuell im Netz kreisenden, aus Frankreich kommenden krass kapitalismuskritischen Empörungs-Manifest „Der kommende Aufstand“. Die Regie wirft erregende Fragen nach „Ökonomie und Wahrheit“ und Moral direkt ins Publikum, das so wütend wie ratlos mit Zwischenrufen reagiert. Gellendes Mitmach-Polit-Theater. Wahnsinn!
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Splitterfasernackte Männer haben auch ihre Reize, wir wissen es zu schätzen. Fahren aber dennoch nicht sofort nach Linz. Dort zeigt das Lentos-Kunstmuseum 340 Kunstwerke mit unterschiedlich posierenden und ebenso ausgestatteten Herren aller Altersgruppen. Drei kulturkritische feministische Kuratorinnen haben die Bilder ausgesucht, um uns zu unterrichten über „die Dekonstruktion des hegemonialen Männlichkeitsmodells, alternative Männlichkeitsmodelle, den Blick des Begehrens auf den männlichen Körper sowie Körperkult und Instrumentalisierung“. Ist auch politisch; oder? Bis zum nächsten Querbeet, die Hosen stramm gezogen.
Schlagwörter: Bernd Ostermeier, Lentos-Kunstmuseum, Martina Schellhorn, Milo Rau, Reinhard Wengierek, Sascha Soydann, Volksfeind, Yassin Musharbash