13. Jahrgang | Nummer 13 | 5. Juli 2010

Nachrichten aus der Debattiermaschine V

von Eckhard Mieder

Ich weiß ja, meine Sicht auf die Dinge ist naiv, aber … kürzlich fragte ich mich, während mein Blick über die Runde des Bundestages ging, wer oder was ein Demokrat sei. Gibt es eine Maßeinheit, ein Rezept, gibt es eine Messlatte oder einen Kodex des Verhaltens, gibt es eine Liste mit zwölf oder 36 Punkten, die man abarbeiten und abhaken kann? Gibt es, in summa, einen Fragebogen für die Menschen, die in das Land der Demokratie einreisen und dort womöglich heimisch werden wollen?
Ich unterdrückte meinen rhetorischen Tremor. Land der Demokratie, hehe! Wie lyrisch wollen wir denn noch werden, Kollege? Wie wäre es da mit einem Reich der Demokratie? Oder gar mit dem Paradies der Demokratie?
Aber die Frage, wer oder was ein Demokrat sei, bohrte in mir.
Im Bundestag, sah ich, saßen ein paar Handvoll Abgeordnete. Teils telefonierten sie, teils lasen sie Zeitung. Teils gähnten sie, teils wisperten sie sich Dinge ins Ohr, von denen kein Geheimdienst und kein Partner was wissen will. Jede und jeder von ihnen ein handverlesener Demokrat, der Wahlurne entstiegen oder auf andere zählerische Weise ins Parlament des Landes (der Demokratie) gelangt. Sie sind nur ihrem Gewissen verpflichtet, ein bißchen den Wählern, und wenn sie dabei auch an den Einkaufszettel für den Abend denken oder an die Englisch-Klausur ihrer Töchter oder an einer Ausrede für das nächtliche Ausbleiben feilen –, sie sind mir nahe. Sie sind Menschen. Sie sind meine Vertreter und verfügen in etwa über meine genetische Ausstattung, inklusive der Neandertal-Anteile.
Ich stellte mir vor, daß ich ihnen, den Boten, den Missionaren, den Vollstreckern, den Verwaltern der Demokratie mit meiner Frage auf den Keks ginge. Aber sie würden freundlich antworten.
Es kämen sehr schöne Antworten. In denen würden die Wörter Würde, Toleranz und Antiterrorismus herumwimmeln wie die Regenwürmer im Glas des Anglers. Auch Moral, Solidarität und soziale Gerechtigkeit leuchteten auf wie Glühwürmchen im Hochmoor. Schließlich fehlte es nicht an Gleichheit, Fairness, Bildung-für-alle und Freiheit (ganz, ganz oben auf der Liste der demokratischen Tugenden, Absichten, Wünsche!), die wie ein Silvesterfeuerwerk im Himmel über der Debattiermaschine zerplatzen würden. Auch von Werten würde ich hören. Abendländische Werte, christliche Werte. Auf die Frage, welche Werte gemeint seien, würde ich die Gegenfrage erhalten, ob ich etwa für Burka, Bombenleger und Kommunisten sei.
Was schiene noch auf? Fortschritt, Fortschritt, nochmals Fortschritt. Volksherrschaft. Plane mit, arbeite mit, regiere mit oder überlasse das den Volksvertretern. Blick nach vorne, wo immer das liegt. Wann haben Sie das letzte Mal das Grundgesetz gelesen, falls überhaupt? …
Plötzlich empfand ich es als unfair, meine Frage nur diesen Parlamentariern zu stellen. Ich müßte sie meinem Nachbarn stellen, meinen Freunden, mir selbst. Sag mal, Schwester-und-Bruder, was bistn du für jemand? Wann warstn du das letzte Mal demokratisch? Eine gute Tat am Tag – reicht das, um ein Demokrat zu sein? Oder nur, um als Jungpionier ein reines Gewissen zu haben?
Und wie ist das mit Lehrern und Priestern, die Kinder schänden? Sind die keine Demokraten? Können wir das in uns trennen, verbrecherisch und zugleich demokratisch zu sein? Ist das Demokratische was Ethisches? Das elfte Gebot: Du sollst stets die Suppe auslöffeln, die du anderen einbrockst?
Wo fängt das Demokratische an, wo hört das auf? Kann man Menschen umbringen und Demokrat sein? War Stalin ein Demokrat? Kann man Kredite vergeben, von denen man weiß, sie ruinieren Menschen, und Demokrat sein? Ist Ackermann ein Demokrat? Reicht es, den Begriff Demokratisch in einen Staatsnamen aufzunehmen, und das betreffende Land ist demokratisch? Waren Ulbricht, Kim Il-Sung, Kabila Demokraten?
Vielleicht ist alles ganz einfach.
Wer nicht demokratisch ist, ist undemokratisch. Nein. Das ist gemogelte Logik. Wer nicht demokratisch ist, muß nicht unbedingt undemokratisch sein. Möglicherweise ist er nur dick, sehr lustig und hat einen Garten. Oder er ißt lieber Schnitzel als daß er sich politisch äußert. Vielleicht geht er statt zur Wahl lieber in den Puff, oder er ist wechselhaft in allem. Auch beim Ankreuzen oder Ablehnen der Parteien und deren Abgesandten. Oder er liest endlich sämtliche Bücher von Dostojewski, kauft keine Zeitung mehr, hat sein Fernsehgerät zertrümmert und schaut, auf ein mit dem Abbild Adenauers besticktes Kissen gestützt, aus dem Fenster dem Vorbeifahren der Debattiermaschine zu. Und morgens ißt er zum Frühstück einen Apfel der Marke Elstar und überlegt, wer Germany’s Next Top Model wird …
Wäre jeder undemokratisch, der nicht demokratisch ist, müßte der Verfassungsschutz sein Personal verzehnfachen und dabei an der Hoffung festhalten, so viele Demokraten zu finden, die dem Dienst Ehre und nicht Schande machen. Apropos: Sind Verfassungsschützer Demokraten? Von Berufs wegen, ihres Charakters wegen, ihrer Funktionsbeschreibung wegen? Weil der demokratische Staat behauptet, seine Werkzeuge seien demokratisch, und die zeige er jedem, der sich undemokratisch verhalte?
Es ist alles nicht mehr so durchsichtig, wie es vielleicht mal war. Damals, als das aufkam, 1776. Als es ein Akt der Befreiung von Kolonialherrschaft war und eine Schlußfolgerung und ein Vollzug der Ideen, die aus Frankreich kamen.* Die brauchten eine rebellische Kraft, um erstmalig Gewalt zu werden: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volkes ist sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket. Zwar gebietet Klugheit, daß von langer Zeit her eingeführte Regierungen nicht um leichter und vergänglicher Ursachen willen verändert werden sollen; und demnach hat die Erfahrung von jeher gezeigt, daß Menschen, so lang das Uebel noch zu ertragen ist, lieber leiden und dulden wollen, als sich durch Umstoßung solcher Regierungsformen, zu denen sie gewöhnt sind, selbst Recht und Hülfe verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt sie unter unumschränkte Herrschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen.“
Demnach ist ein Demokrat jemand, der seine unveräußerlichen Rechte wie die unveräußerlichen Rechte seines Nachbarn anerkennt, schützt und hegt. Demnach ist ein Demokrat durchaus leidensfähig. Er kann eine verderbliche Regierung eine Weile ertragen. Ja er erträgt sie aus der Einsicht heraus, daß es zum Regieren Zeit braucht, und daß ja vielleicht noch gut wird, was scheiße beginnt oder eine Weile gaga läuft. Demnach ist ein Demokrat auch jemand, der das Recht, ja die Pflicht hat, seine Regierung abzuwerfen, wenn sie ihm keine Sicherheit mehr gewährt, das Streben nach Glückseligkeit unmöglich macht und Freiheit nur noch als Sprechblase über den Rednertribünen schweben lässt.
So ernst wollte ich nicht werden. Mir wird mulmig zumute. Die Frage, wer oder was ein Demokrat sei, zieht wie Senkblei – mindestens bis in die Tiefe des Grundgesetzes, bis in den Absatz 4 des Artikels 20: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, habe alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“
So wie in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung die Demokratie proklamiert wird als Abschaffung einer Regierungsform, die nicht auf Glückseligkeit und Sicherheit aus ist, so sollten auch all diejenigen bedrängt werden, die das Wunderwerk Demokratie beseitigen wollen. Der Gedanke gefällt mir. Er kommt wehrhaft daher. Er fordert jede Deutsche, jeden Deutschen zur Courage auf. Er drängt dazu, demokratisch zu sein.
Freilich. Machen wir ja, sind wir ja. Hat sich über Jahrzehnte ins Bewußtsein der Demokraten eingefräst, daß die Gefahr für die Demokratie von destruktiven Kräfte wie den Kommunisten, der RAF, den Rote Brigaden, von anderen Terroristen etc. pp. ausgeht. Bin mir nur nicht sicher, ob es nicht seit langem Banken, Finanzmärkte und Plutokraten sind, die diese Ordnung beseitigen und die Demokratie wirkungsmächtiger abreißen als es je ein linker, trotzkistisch-gewerkschaftlich-marxistisch-sympathisch-wirrköpfiger Stadtrat („Habe auch Habermas gelesen, entschuldigt, Genossinnen und Genossen!“) könnte.
Und sollte nicht derjenige, der mithilft, diese Feinde der Demokratie zu verfolgen und zu strafen -, sollte nicht derjenige Demokrat genannt werden?
Zudem frage ich mich, wozu Banken, Finanzmärkte und Plutokraten die Demokratie brauchen? Rechnet sie sich noch oder wird sie fürs Geschäft lästig, weil sie nicht mal mehr als Deckmantel taugt? Haben wir sie noch, die Demokratie?

* Die „Allgemeine Menschenrechte“ wurden erstmals in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 postuliert.