Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Berlinale II

von F.-B. Habel

Viel war los im Jahre 1961 – der erste Mensch flog ins All, in Berlin wurde die Mauer gebaut, und in die neue Golzower Schule im Oderbruch kamen Lernanfänger, die weltbekannt werden sollten. Winfried und Barbara Junge haben die 1961 bei der DEFA begonnene Langzeitbeobachtung – die umfangreichste des internationalen Films – fortgesetzt und das Ergebnis im Internationalen Forum des Jungen Films auf der Berlinale vorgestellt.
Nach Einzelporträts einiger Protagonisten faßt der neue Film die Lebenswege einiger Schüler zusammen, die in früheren Filmen nicht im Vordergrund standen. Dabei kam mit knapp fünf Stunden der zweitlängste Film der Reihe zustande. Mit einer gewissen Unerbittlichkeit haben die beiden Filmemacher altes Material neu geordnet und neues gedreht, und siehe da, auch diese Geschichten haben viel zu berichten. Winfried, der Elektroniker, war auch eine zeitlang Kampfgruppenkommandeur und lebt heute recht und schlecht in Bayern. Maler und Tapezierer wurde Jürgen, der sich nach der Wende zum Staplerfahrer umschulen ließ und noch nicht das Arbeitslosenheer vergrößert. Er ist mit der »neuen Zeit« versöhnt. Christian, der einst Landmaschinen betreute, ging noch in den achtziger Jahren nach Berlin, wo er einen krisenfesten Job als Haustechniker bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau hat.
Unbefriedigend bleiben die Geschichten von Petra und Ilona. Beide haben sich der Beobachtung durch die Kamera schon vor mehr als zwei Jahrzehnten verweigert. Die Junges können dafür weder einen plausiblen Grund liefern, noch erfährt man, was aus den jungen Frauen inzwischen wurde. Hier, in seiner ersten Hälfte, war der ansonsten aufschlußreiche Film zäh und manchmal fast selbstverliebt, wenn Winfried Junge seine mißglückten Interview-Versuche mit den jungen Frauen und ihren Angehörigen breit ausstellt. Dieser Golzow-Film heißt Und wenn sie nicht gestorben sind … Da ahnt man schon den Titel des nächsten!
Michael Klier, bundesdeutscher Filmemacher, lebte bis 1961 als jugendlicher Wilder einige Jahre in Dresden. In seinem von Dominik Graf verfilmten Szenarium über die letzten Monate vor dem Mauerbau, das er dem legendären Jazz-Schuppen Roter Kakadu widmete, verdichtet er Erlebnisse aus dieser Zeit. Doch das gerät realitätsfern und im Detail ungenau. Dabei ist die chronologisch etwas vorverlegte Theo-Schumann-Combo noch der geringste Einwand.
Schließlich flog Juri Gagarin durchaus nicht in einem Raumschiff namens Sputnik, und man trug 1961 weder im Osten noch im Westen so lange Haare wie hier Ronald Zehrfeld und Klaus Manchen. Und Heinrich Böll war auch damals in der DDR schon kein Geheimtip mehr. Daß Rock’n’Roll-Anhänger in den Elbauen von Volkspolizisten zusammengeknüppelt wurden, scheint mir auch aus dem Reich der Filmdichtung zu stammen. Einzig die Tatsache, daß unter den ach so freiheitsliebenden Republikflüchtlingen auch solche waren, die ihre Freunde verpfiffen, und das sympathische Spiel von Max Riemelt und Jessica Schwarz versöhnen etwas mit diesem mißratenen Zeitbild, das in der Panorama-Sektion der Berlinale lief.

»Und wenn sie nicht gestorben sind …«, Premiere 19. März um 11 Uhr Kino »Toni« in Berlin-Weißensee; »Der Rote Kakadu« derzeit in zahlreichen Kinos