Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Kalter Bürger-Krieg

von Jörn Schütrumpf

Der Bundestag hat eine Gerechtigkeitslücke geschlossen. Wer nach vielen Jahren Berufstätigkeit in die Reserverarmee des Kapitals versetzt worden war, büßte am Jahreswechsel 2004/05 mit dem sogenannten Arbeitslosengeld II gegenüber der vorherigen Regelung zumeist viel Geld ein, hatte sich doch die bis dahin gezahlte Unterstützung nach seinem einstigen Arbeitseinkommen berechnet. Aber wer noch nie Morgen für Morgen zur Arbeit hatte hetzen müssen, erhielt jetzt genauso viel wie der, der auf dem Weg in die Arbeitslosigkeit Leid und Freud eines existenzsichernden Arbeitsplatzes kennengelernt hatte: 345 Euro, zumindest im wirklichen Deutschland, während im angeschlossenen Teil 331 Euro verteilt wurden, was die einen als sehr gerecht und die anderen als nicht so gerecht empfanden. Meinten sie doch, wenigstens in der Armut sollte der Deutsche die errungene Einheit leben.
Beiden Zuständen hat der Bundestag jetzt ein Ende bereitet und Gerechtigkeit eingeführt: Deutsche, unabhängig von Herkunft, Geburtsort und Wohnort dürfen künftig auf gleicher Augenhöhe arm sein. Und: Nicht arbeitende Menschen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollzogen haben sowie am selbstverschuldeten Gebrechen eines nicht rechtzeitigen Auszuges aus der elterlichen Wohnung leiden, werden unter Jugendstrafrecht gestellt: Kürzung der Bezüge um zwanzig Prozent plus Heimkasernierung bei den Eltern, alternativ dazu: Umzug unter eine einsturzgefährdete Brücke. Von denen gibt es heute prozentual gesehen mindestens genauso viel wie 1989 im Land der maroden Brücken DDR.
Der Bundestag durfte sich von vornherein eines heimlichen Beifalls sicher sein. Nicht so sehr des der Eltern, denen der arbeitslose Nachwuchs jetzt noch länger die Beine unter den Abendbrottisch steckt, als des der Kinderlosen und ähnlich Privilegierten. Diese Art Gerechtigkeit beendet zwar gegen die Gleichheit vor dem Gesetz und damit die wichtigste Errungenschaft, die die Französische Revolution den Deutschen schenkte; aber das stört die heimlichen Klatscher nicht: Schließlich sind die jungen Arbeitslosen in Scharen daheim ausgezogen und haben sich vom Staat ihren Wohnraum bezahlen lassen, während unsereiner … Das kann nun wohl wirklich nicht wahr sein.
Eine weitere Tür zum großen Teile-und-herrsche-Spiel ist damit erfolgreich aufgestoßen worden. Darum und nur darum geht es; nicht um die asozial eingesparten Millionen. Als nächstes werden dann die nichtarbeitenden Menschen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollzogen haben sowie am selbstverschuldeten Gebrechen eines nicht rechtzeitigen Auszuges aus der elterlichen Wohnung leiden, klatschen dürfen – wenn mit Hinweis auf ihr Schicksal den Rentnern die Bezüge gekürzt werden; man die Achtzigjährigen von den Zumutungen der Apparatemedizin freistellt, Herzschrittmacher inklusive (es sei denn, sie bezahlen die Technik allein, von ihren zuvor gekürzten Renten) und die Arbeitszeit der kommunal alimentierten Müllfahrer im Winter auf sechzig Stunden erhöht wird, ohne Lohnausgleich, versteht sich.
Die Regierung hat sich aufgemacht – in der Außenpolitik in den Krieg, in der Innenpolitik in eine andere Republik. Eine Republik, in der die Gleichheit vor dem Gesetz eingeschränkt wird, verliert ihre republikanische Substanz. Selbst diese »süße Schale der formalen Gleichheit und Freiheit«, unter der ohnehin stets ein »herber Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit« (Rosa Luxemburg) steckt, ist den sogenannten Eliten unterdessen zuviel geworden. Mit der Einschränkung der Gleichheit entfachen sie einen »kalten Bürgerkrieg«: jeder gegen jeden, die Alten gegen die Jungen, die Gesunden gegen die Kranken, die Armen gegen die noch Ärmeren – um eines nur zu verhindern: die unten gegen die oben.
Erstmals seit Anfang der dreißiger Jahre erlebt eine ganze Generation, und zwar jeder einzelne, daß in dieser Gesellschaft niemand auf sie wartet. Die Cleveren und Fähigen schlagen sich durch, so gut sie können, und versichern sich tagtäglich gegenseitig, daß man ja nur wollen müsse, um zu können. Die weniger Fähigen und Antriebsärmeren hingegen haben längst innerlich kapituliert und nehmen auf ihre Weise an der Gesellschaft Rache: indem sie sich vom Staat alimentieren lassen, ohne auch nur noch eine Anstrengung zu unternehmen, in geregelte Arbeit zu gelangen – und sich jetzt dafür bis zum 25. Lebensjahr allabendlich anhören zu dürfen, was sie doch für ein mieses Gesocks sind.
Bis wieder jemand nach der »ordnenden Hand« der Diktatur ruft, ist es nur eine Frage der Zeit. Da wird dann auch wieder Platz sein für die jungen Arbeitslosen und die jung Unfähiggemachten: Dort können sie sich ihren wohlerworbenen Haß auf die Gesellschaft ganz legal aus dem Leib prügeln. 1933 ff. traf es auch so manchen einst regierenden Sozialdemokraten. Ihre Nachfolger haben jedoch die damalige Lektion gelernt und verschaffen sich Aufsichtsratsposten in der Putin-Autokratie.