Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 6. März 2006, Heft 5

Islam

von Antonio Gramsci

Mir scheint, daß das Problem sehr viel einfacher ist, als man es erscheinen lassen möchte, aus dem Grund, daß man implizit das »Christentum« als der modernen Zivilisation innewohnend betrachtet, oder zumindest nicht den Mut hat, die Frage nach den Beziehungen zwischen Christentum und moderner Zivilisation zu stellen. Warum könnte der Islam nicht das tun, was das Christentum getan hat? Mir scheint sogar, daß das Fehlen einer massiven kirchlichen Organisation christlich-katholischen Typs die Anpassung erleichtern müßte. Wenn man einräumt, daß die moderne Zivilisation in ihrer industriell-ökonomisch-politischen Erscheinung im Orient am Ende siegen wird (und alles beweist, daß dies geschieht und daß diese Diskussionen über den Islam sogar deshalb stattfinden, weil es eine Krise gibt, die eben durch diese Verbreitung moderner Elemente bestimmt wird), warum darf man dann nicht schließen, daß der Islam notwendig sich entwickeln wird? Wird er genau so bleiben können? Nein: Schon ist er nicht mehr der von vor dem Krieg. Wird er auf einen Schlag fallen können? Absurd. Wird er durch eine christliche Religion ersetzt werden können? Absurd, dies für die großen Massen anzunehmen. Der Vatikan selbst merkt, wie widersprüchlich es wäre, das Christentum in den orientalischen Ländern einführen zu wollen, in die der Kapitalismus eingeführt wird: Die Orientalen sehen darin den Gegensatz, den man in unseren Ländern nicht sieht, weil das Christentum sich molekular angepaßt hat und Jesuitismus geworden ist, das heißt eine große soziale Heuchelei: Von daher die Schwierigkeiten des Wirkens der Missionen und die geringe Bedeutung der andererseits sehr begrenzten Konversionen.
In Wirklichkeit ist die tragischste Schwierigkeit für den Islam durch die Tatsache gegeben, daß eine durch Jahrhunderte der Isolation und durch ein verfaultes Feudalregime (selbstverständlich sind die Feudalherren keine Materialisten!!) abgestumpfte Gesellschaft zu plötzlich mit einer frenetischen Zivilisation in Kontakt gebracht wird, die sich bereits in ihrer Auflösung befindet. Das Christentum hat neun Jahrhunderte gebraucht, um sich zu entwickeln und anzupassen, hat es in kleinen Etappen gemacht usw.: Der Islam ist gezwungen, schwindelerregend schnell zu laufen. In Wirklichkeit aber reagiert er genau so wie das Christentum: Die große Häresie, auf die sich die Häresien im eigentlichen Sinne gründen werden, ist das »Nationalgefühl« gegen den theokratischen Kosmopolitismus. Das Motiv der Rückkehr zu den »Ursprüngen« kommt dann genauso wie im Christentum auf; zur Reinheit der ersten religiösen Texte, die der Korruption der offiziellen Hierarchie entgegengesetzt werden: Die Wahhabiten stehen genau dafür, und der Sirdar Ikbal Ali Shah erklärt mit diesem Prinzip Kemal Paschas Reformen in der Türkei: Es handelt sich nicht um »Neuheiten«, sondern um eine Rückkehr zum Alten, zum Reinen usw. usf. Dieser Sirdar Ikbal Ali Shah scheint mir gerade zu beweisen, daß es unter den Muslims einen Jesuitismus und eine Kasuistik gibt, die ebenso entwickelt sind wie im Katholizismus.

Antonio Gramsci (1891-1937) in einer Miszelle zu einem Artikel des italienischen Arabisten Michelangelo Guidi und des afghanischen Diplomaten Sirdar Ikbal Ali Shah in der Zeitschrift »Nuova Antologia« vom 1. Oktober 1928, hier entnommen dem Band 2 der zehnbändigen Ausgabe der »Gefängnishefte« des von 1926 bis 1937 im faschistischen Italien gefangengehaltenen Mitbegründers der Kommunistischen Partei Italiens, herausgegeben unter der wissenschaftlichen Leitung von Klaus Bochmann und Wolfgang Fritz Haug, Argument-Verlag Hamburg 1991, S. 298-299