von Christian Parenti
Nicht selten sieht man in einem Teehaus oder einem kleinen Laden von Kabul ein Bild an der Wand, das einen ernst blickenden Mann mit rundem Gesicht, dunklem Haar und Schnurrbart zeigt. Es ist das Porträt von Mohammed Nadschibullah, dem letzten kommunistischen Präsidenten Afghanistans. Nadschibullah war erst 1986 ins Amt gekommen, davor hatte er jahrelang die straff durchorganisierte Geheimpolizei KHAD geleitet. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppen konnte er sich noch drei Jahre an der Macht halten, bis er 1996 von Talibankämpfern auf grauenhafte Weise umgebracht wurde.
Wenn man Afghanen auf die Nadschibullah-Poster anspricht, hört man Sätze wie: „Er war ein starker Präsident, und wir hatten damals eine starke Armee.“ Oder: „Kabul war sauber, und alles war in Ordnung.“ Ein Teehausbetreiber meinte nur: „Nadschib hat gegen Pakistan gekämpft.“ In der Erinnerung erscheint Nadschibullah also weniger als Sozialist – für viele Afghanen ohnehin ein nebelhafter Begriff -, sondern als Patriot und Modernisierer.
Warum Nadschibullah heute noch eine begrenzte Verehrung genießt, lässt sich nur verstehen, wenn man die Sowjetherrschaft in Afghanistan noch einmal genauer in den Blick nimmt: die strategischen und taktischen Aspekte, den Terror und das Leid der Menschen, aber auch die Ideale und Ziele der afghanischen Kommunisten und ihrer sowjetischen Verbündeten. Ein Experte auf diesem Gebiet ist Rodric Braithwaite, ein Veteran der Diplomatie des Kalten Krieges, der als britischer Botschafter in Moskau den Zerfall der Sowjetunion beobachtet hat. In seinem Buch „Afgantsy“1 (der russische Spitzname für die Afghanistanveteranen) schildert er detailliert und mit viel Gespür die russische Invasion und Besatzungszeit in Afghanistan. Braithwaites nüchterne und ausgewogene Darstellung kontert zugleich die propagandistisch verzerrten und falschen Informationen, die er selbst als britischer Diplomat in Moskau verbreiten half. In dem Buch hat er diesen Punkt allerdings nur angedeutet, in Interviews hat er sich dazu deutlicher geäußert. Für seine Forschungen hatte er Zugang zu Archiven der russischen Regierung, er sprach mit Zeitzeugen, die im sowjetisch-afghanischen Krieg eine Schlüsselrolle gespielt haben, und er reiste nach Kabul, um seine Kenntnisse vor Ort zu vertiefen.
Jonathan Steele hat mit „Ghosts of Afghanistan“2 ein Buch vorgelegt, das sich teilweise mit derselben Periode beschäftigt. Als langjähriger Auslandskorrespondent des Guardian hat er dreißig Jahre lang über Afghanistan berichtet: über die sowjetische Intervention, die Nadschibullah-Ära, die Schreckenszeit unter den Mudschaheddin, den Bürgerkrieg, den Aufstieg der Taliban und die US-amerikanische Besatzung.3 Steele zeichnet ein umfassendes und nuanciertes Bild von Afghanistan, wobei sein journalistischer Blick für aktuelle Details und Zusammenhänge durch eine langfristige historische Betrachtungsweise ergänzt wird. Diese Synthese gelingt ihm am eindrucksvollsten, wenn er die vergessene Geschichte der afghanischen Kommunisten und der sowjetischen Besatzungszeit analysiert.
Bolschewistische Truppen hatten schon während des russischen Bürgerkriegs, der bis 1922 andauerte, muslimische Aufständische in den zentralasiatischen Grenzgebieten bekämpft. Die endgültige Unterwerfung dieser so genannten Basmatschi (Banditen) gelang erst in den 1930er Jahren – und zwar mithilfe der damaligen Königlichen Afghanischen Armee. Schon damals war ein stabiles Afghanistan aus Moskauer Sicht ein Schlüsselfaktor für die Sicherheit in den zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Seit Beginn der 1950er Jahre gehörte das Land zu den vier Hauptempfängern sowjetischer Auslandshilfe. Zudem schickte Moskau Scharen von Ingenieuren, und umgekehrt absolvierten tausende von afghanischen Studenten, Technikern und Offizieren ihre Ausbildung in Russland.
Seit Ende der 1950er Jahre engagierten sich auch die USA in Afghanistan. Damals begann die Konkurrenz der beiden Supermächte auf dem Gebiet der Entwicklungshilfe. Die Amerikaner finanzierten ein Staudammprojekt am Helmand-Fluss4, das der Stromerzeugung und der Bewässerung der Wüstengebiete im Süden diente. Die Russen bauten den Salang-Pass-Tunnel, der den Norden und den Süden Afghanistans verbindet. Beim Ausbau des Straßennetzes engagierten sich beide Supermächte. Und beim Kabuler Flughafen wurde die Infrastruktur von den Russen errichtet, während die elektronische Ausrüstung, die Telefon- und die Radaranlagen aus den USA kamen.
Die Rivalität zwischen den beiden Supermächten hatte teilweise überraschende Folgen: So waren einige der ersten Führer der Mudschaheddin Armeeoffiziere, die in der UdSSR ausgebildet worden waren, darunter Ismail Khan, der Anführer des Aufstands in Herat 1979. Umgekehrt schlossen sich etliche Intellektuelle, die in den USA studiert hatten, später den Kommunisten an und brachten es sogar – wie Hafizullah Amin – zum Regierungschef.
Der kommunistische Putsch von 1979 war die indirekte Folge eines früheren Staatsstreichs, den eine Hungerkatastrophe ausgelöst hatte. Nach Dürreperioden, die das Land seit 1969 heimsuchten, erreichte die Hungersnot 1973 in der Provinz Ghor ihren Höhepunkt. Viele Menschen starben. König Mohammed Sahir Schah hatte es versäumt, Vorsorge gegen den Hunger zu treffen. Das nahm sein Cousin General Mohammed Daoud Khan zum Anlass für einen Putsch, mit dem er die Monarchie abschaffte und sich zum Präsidenten der neuen Republik Afghanistan ernannte.
Nach seiner Machtübernahme betrieb Daoud eine nicht sonderlich originelle Wirtschaftspolitik: Staatliche Lenkungsmaßnahmen und öffentliche Investitionen sollten die Entstehung privater Unternehmen und eines stabilen Binnenmarktes unterstützen. Gegenüber seinen Gegnern – den untereinander verfeindeten Kommunisten und Islamisten – agierte Daoud teils mit Repression, teils mit dem Angebot einer Machtbeteiligung. Als die Unterdrückung überhand nahm, gingen islamistische Führer wie der Tadschike Ahmed Schah Massud und der Paschtune Gulbuddin Hekmatjar ins Exil nach Pakistan, um von dort den bewaffneten Kampf aufzunehmen.
Auch der blutige kommunistische Putsch von 1978 – laut Steele ein „hastig improvisiertes“ Unternehmen – war eine Folge der Repression. Auslöser war die Ermordung von Mir Akbar Khyber, einem populären hochrangigen Parteifunktionär der kommunistischen DVPA (Demokratische Volkspartei Afghanistan). Auf die Protestdemonstrationen der Kommunisten reagierte die Polizei mit Massenverhaftungen, so dass die DVPA-Führung die vollständige Vernichtung der Partei fürchtete. Daraufhin stürmten ihre Gefolgsleute im Offizierskorps den Präsidentenpalast. Daoud wurde getötet, und die Kommunisten übernahmen die Macht.
Die Khalq-Kommunisten herrschten mit blutiger Gewalt
Diese Entwicklung kam offenbar auch für die Führung in Moskau und selbst für die KGB-Agenten in Kabul überraschend. „Was da geschehen war, gefiel ihnen gar nicht“, schreibt Braithwaite. Aus Moskauer Sicht war weder Afghanistan reif für den Sozialismus, noch die DVPA reif für die Führung des Landes. Zudem tobte innerhalb der DVPA ein erbitterter Richtungsstreit. Die radikale Mehrheitsfraktion Khalq (Das Volk), die den Putsch geführt hatte, fand Rückhalt in der paschtosprachigen urbanen Unterschicht und bei Migranten, die auf der Suche nach Arbeit oder Ausbildungschancen in die Städte drängten. Die eher gemäßigte Minderheitsfraktion Parcham (Das Banner) stützte sich auf die bereits etablierte städtische Mittelschicht, die vorwiegend Persisch (Dari) spricht.
Die Khalq-Kommunisten herrschten anfangs mit blutiger Gewalt. Vierzig Generäle und politische Verbündete von Daoud, darunter zwei ehemalige Ministerpräsidenten, wurden kurzerhand hingerichtet. Aber auch Islamisten, Maoisten und sogar DVPA-Mitglieder des Parcham-Flügels landeten im Gefängnis, verschwanden spurlos oder wurden umgebracht. Die zunehmende Gewalt löste in Moskau große Sorgen aus. Allerdings erließ die Khalq-Regierung auch eine Reihe fortschrittlicher Gesetze und Maßnahmen wie das Verbot der Kinderheirat und die Begrenzung des Brautpreises. Zudem wurden die Hypothekenschulden auf Agrarland gestrichen, Alphabetisierungskampagnen für Männer und Frauen (und zwar getrennt) gestartet und eine staatliche Landreform verordnet. Bei vielen dieser gut gemeinten Bemühungen haperte es allerdings an der Umsetzung, und die Gegenreaktionen ließen nicht lange auf sich warten.
Saleh Mohammed Zeary, ein ehemaliger kommunistischer Funktionär, den Steele in einem schäbigen Wohnsilo in der Nähe des Londoner Flughafen Heathrow aufgespürt hat, erklärte diesen Widerstand so: „Die Bauern waren zuerst begeistert, aber nur bis sie hörten, dass wir Kommunisten waren. Dann waren alle gegen uns. Sie sagten, wir glaubten nicht an den Islam, und damit hatten sie Recht. Sie konnten ja sehen, dass wir nicht beteten. Wir befreiten die Frauen vom Brautpreis5 – und man sagte, wir seien für die freie Liebe.“
Zeary floh erst 1992 nach London, nachdem die Mudschaheddin an die Macht gekommen waren. Die „Soldaten Gottes“ hatten seine Frau und zwei seiner Kinder ermordet. Ein anderer Exfunktionär der DVPA kritisierte gegenüber Steele den Ehrgeiz der Parteiführer, den Analphabetismus binnen fünf Jahren zu überwinden. „Das war lächerlich“, sagt er heute. Und auch „die Bodenreform war unpopulär. All diese so genannten revolutionären Verordnungen wollten sie mit Gewalt durchsetzen. Die Gesellschaft war noch nicht so weit. Man hatte die Menschen nicht gefragt.“
Steele merkt übrigens an, dass diese DVPA-Veteranen, die früher Zugang zu großen Summen öffentlicher Gelder hatten, sich offensichtlich nicht im großen Stil bereichert haben.
Die übereilt geplanten Reformen scheiterten letzten Endes am alten Gegensatz zwischen Stadt und Land, der die afghanische Gesellschaft durchzieht. Die gebildeten jungen, idealistischen Städter hatten keine Ahnung von der dörflichen Welt, die sie ummodeln wollten. Und die Bewohner der mit Lehmmauern umschlossenen Dörfer verstanden nicht, was die städtische Obrigkeit von ihnen wollte. Nun ist es keine Überraschung, dass die Mullahs, die maliks (Dorfältesten) und die Großgrundbesitzer solche weitreichenden Reformen nicht mochten, schließlich wollten sie ihre angestammten Vorrechte nicht aufgeben. Irritierender ist, dass auch die bäuerliche Bevölkerung das Programm mit großer Mehrheit ablehnte, obwohl dessen progressive Aspekte ihren Interessen entsprachen. Allerdings war Afghanistan zwar von Armut und Ungleichheit geprägt, aber der Grundbesitz war nicht so extrem ungerecht verteilt wie etwa im vorrevolutionären Mexiko oder in China. Und die tief religiösen Bauern waren, wie Steele erläutert, „mit ihren Grundbesitzern durch Bande der Religion, der Sippe und der Familie verbunden und deshalb nicht bereit, deren Autorität infrage zu stellen“. So entwickelte sich auf dem Lande, wo man die relative Autonomie von Kabul schätzte und die man nun durch die Reformen bedroht sah, ein bewaffneter Widerstand. Und zwar im Bündnis mit den islamistischen Parteien, die vor der Repression des Daoud-Regimes nach Pakistan ausgewichen waren.
Die Kabuler Regierung musste aber auch für schlichte handwerkliche Fehler büßen. Die kommunistischen Städter verteilten zwar das Ackerland, nicht aber die Wasserrechte. Ein weiterer Beweis für ihre Ahnungslosigkeit in Sachen Landwirtschaft: Sie schafften zwar das ausbeuterische System des Geldverleihens ab, boten den Bauern aber keine alternativen Kredite, um den Kauf von Saatgut zu ermöglichen.6 Die sowjetische Führung empfahl ihren Genossen in Kabul wiederholt, die radikalsten Reformen aufzugeben oder wenigstens aufzuschieben.
Die Kommunisten waren allerdings nicht die Ersten, die mit ihren Modernisierungsplänen im ländlichen Afghanistan aufliefen. Der „rote Prinz“ Amanullah Khan, der 1919 die Briten vertrieben hatte, wurde zehn Jahre später durch einen Aufstand der Stämme gestürzt, die seinen Modernisierungsansatz nach türkischen Vorbild ablehnten. Er hatte eine bescheidene Landreform durchgesetzt, das Wahlrecht für Frauen und Schulen für Mädchen eingeführt. Die Notabeln auf dem Land hatten nichts gegen bessere Straßen, wohl aber gegen die neuen Steuern, mit denen sie finanziert werden sollten. Und die Masse der Bauern sträubte sich nicht gegen Verbesserungen in der Landwirtschaft und mehr Schulen, das Patriarchat aber sollte unangetastet bleiben. Fünfzig Jahre später erlebt die DVPA einen ähnlichen religiös inspirierten Aufstand, den die kommunistischen Funktionäre zunächst einzudämmen versuchten, indem sie sich beim Gebet zeigten und Moscheen besuchten. Doch es war zu spät. Im März 1979 kam es in der Provinzhauptstadt Herat, an der Grenze zum Iran, zur offenen Meuterei von Truppenteilen unter der Führung islamistischer Offiziere.7 Zweifellos spielten dabei die Ereignisse im Nachbarland eine Rolle: Nur einen Monat zuvor war der Schah geflohen und Chomeini nach Teheran zurückgekehrt.
Als es auch in anderen Garnisonen zu Meutereien kam, schickte die Sowjetunion mehr Militärberater nach Afghanistan. Zugleich plante sie aber bereits den massiven Einsatz von Bodentruppen. Die USA wiederum unterstützten seit Sommer 1979 die Mudschaheddin-Rebellen, die von Pakistan aus Angriffe auf afghanische Regierungstruppen und öffentliche Einrichtungen führten, mit Waffen und Geld. Innerhalb der DVPA spitzte sich der Richtungsstreit zu: Ideologische und persönliche Feindschaften führten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des Khalq- und des Parcham-Flügels und sogar innerhalb der Khalq-Fraktion. Im September 1979 wurde Präsident Nur Muhammad Taraki an ein Bett gefesselt und mit einem Kissen erstickt, den Mordbefehl hatte Ministerpräsident Hafizullah Amin erteilt, Tarakis Rivale innerhalb der Khalq-Fraktion.
Das musste die Führung in Moskau als Affront empfinden, denn sie hatte Tarakis flexiblere Politik befürwortet. Überdies kamen Verschwörungstheorien auf. Amin wurden Kontakte zur CIA nachgesagt, weil er in den 1960er Jahren einen Doktortitel an der Columbia University erworben und dort die afghanische Studentenvertretung geleitet hatte. Laut Steele soll Amin zugegeben haben, vor der Revolution Geld von der CIA erhalten zu haben. Braithwaite schreibt, der US-Botschafter in Kabul, Adolph Dubs, habe nach Gesprächen mit Amin bei der CIA angefragt, ob der Regierungschef zu ihren Kontaktpersonen gehöre. Vermutlich verhielt sich Amin nur wie alle, die vor ihm den Pufferstaat Afghanistan gelenkt hatten: Er versuchte zwischen den Großmächten zu lavieren.
Im Laufe des Krisenjahrs 1979 hat die kommunistische Regierung Afghanistans die Sowjetunion ganze dreizehnmal dazu aufgefordert, militärisch einzugreifen. Doch Moskau verweigerte sich mit Verweis auf alle möglichen plausiblen Gründe: „Wir haben alle Aspekte dieses Vorgehens geprüft“, erklärte ein sowjetischer Regierungsvertreter, „und sind zu dem Schluss gekommen, dass sich durch das Eingreifen unserer Truppen die Situation in ihrem Land nicht nur nicht verbessern, sondern sogar verschlimmern würde.“ Erst die Ermordung Tarakis scheint ein Umdenken in Moskau bewirkt zu haben.
Am Weihnachtstag 1979 überschritt die 40. Sowjetarmee die afghanische Grenze. Ihr Auftrag lautete allerdings nicht, Amin zu unterstützen, sondern ihn zu beseitigen. Spezialeinheiten griffen den Präsidentenpalast an und kämpften sich Raum für Raum zum Präsidenten vor. Am 27. Dezember verstarb Amin nach einem Feuergefecht. Als Nachfolger setzte die Sowjetmacht Babrak Karmal von der gemäßigten Parcham-Fraktion der DVPA ein, ein paranoider Alkoholiker, der für sein Amt völlig ungeeignet war. Zumindest die städtische Bevölkerung begrüßte den sowjetischen Einmarsch, der der bizarren Herrschaft Amins ein Ende setzte. Und in Moskau glaubte man zunächst – wie auch in Washington –, die ganze Mission werde höchstens ein halbes Jahr dauern.
Die Sowjetunion schickte nicht nur Soldaten, sondern auch Scharen ziviler Berater und Techniker, die ihre Aufgabe sehr ernst nahmen. Doch da es Karmal nicht gelang, das Vertrauen der muslimischen Landbevölkerung zu gewinnen, reichte der Einfluss der Regierung nicht weit über Kabul hinaus. Das lag auch an der US-Unterstützung für die afghanischen Mudschaheddin. Die von der CIA eingefädelte Militärhilfe wurde von Saudi-Arabien großzügig finanziert und über den pakistanischen Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) abgewickelt, der sich dabei nicht in die Karten schauen ließ. Binnen Kurzem sah sich die UdSSR in einen Krieg verstrickt, der neun Jahre dauern sollte.
Viele der sowjetischen Soldaten waren ehrlich überzeugt, eine „internationale Aufgabe“ zu erfüllen – ganz ähnlich wie US-Freiwillige, die ihren aktuellen Einsatz in Afghanistan als Hilfe für ein rückständiges Land und als Abwehr einer terroristischen Bedrohung verstehen. Und wie die U.S. Army heute rekrutierte auch die Sowjetarmee ihre einfachen Soldaten, die den Kampf führten und ihr Leben riskierten, überwiegend aus der Arbeiterschicht, aus Kleinstädten oder vom flachen Land. Nur in der Luftwaffe, beim KGB und in den Feldlazaretten dienten auch Männer (und einige Frauen) mit guter Ausbildung und Parteikontakten, die aus den westrussischen Großstädten stammten.
Das eigentliche Ziel der 40. Armee bestand darin, die Sympathie und Zustimmung der Afghanen zu gewinnen, doch das erwies sich als unmöglich. Wo immer sowjetische und afghanische Bodentruppen unter Druck gerieten, forderten sie Artillerie und Luftunterstützung an. Wenn sie also von den Mudschaheddin aus einem Dorf heraus beschossen wurden, ließen sie das Dorf bombardieren und zerstören. Dass die Russen chemische Waffen eingesetzt oder als Spielzeug getarnte Minen verlegt hätten, hält Braithwaite für gezielte Erfindungen der Kalten Krieger. Das brutale Vorgehen gegen die afghanische Zivilbevölkerung war – anders als es die Berichte in der westlichen Presse unterstellten – keineswegs eine bewusste Strategie, sondern eine zu erwartende und daher unentschuldbare Nebenfolge dieses Kriegs. Aber die Art der Aufstandsbekämpfung brachte zwangsläufig noch weitere unkalkulierbare Effekte und noch tiefere Widersprüche hervor: Die sowjetische Militärjustiz verurteilte hunderte ihrer Soldaten für Verbrechen und Vergehen, die von Diebstahl und Drogenkonsum bis zu Vergewaltigung und Mord reichten. Die sowjetischen Militärs waren jedoch nicht imstande oder nicht bereit, das Wüten des afghanischen Geheimdienstes KHAD zu unterbinden. 8.000 Menschen wurden unter dem DVPA-Regime hingerichtet, Zigtausende kamen ins Gefängnis und wurden misshandelt.
Braithwaite zufolge halten die Afghanen die Russen für bessere Soldaten als die Amerikaner. Das könnte schlicht daran liegen, dass sie weniger vorsichtig kämpften und weniger „gepanzert“ auftraten als die U.S. Army. Und daran, dass die Afgantsy der bäuerlichen Lebensweise eines zentralasiatischen Landes in vieler Hinsicht näher standen. Von den sowjetischen Afghanistankämpfern, die aus dem Krieg zurückkehrten, waren viele traumatisiert, drogensüchtig oder alkoholabhängig. Die Verwundeten hatten sich mit einem bürokratischen Gesundheitssystem herumzuschlagen, um ihre Ansprüche durchzusetzen. Und die Veteranen mussten feststellen, dass viele ihrer Landsleute von diesem offensichtlich sinnlosen Krieg nichts mehr hören wollten.
Rückzug über die Brücke der Freundschaft
Als 1985 Gorbatschow ins Amt kam, wurde der Rückzug aus Afghanistan bald zur beschlossenen Sache. Dazu hatte auch eine stille, aber beharrliche Kampagne beigetragen: Veteranen, Angehörige von Wehrpflichtigen und sogar einige aktive Offiziere schickten Briefe nach Moskau, in denen sie den Krieg verurteilten. Perestroika und Glasnost lagen bereits in der Luft, und in Afghanistan rückte der neu ernannte Präsident Nadschibullah vom Marxismus-Leninismus ab und setzte auf einen eher pragmatischen Nationalismus. 1988 wurde die DVPA in Hisb-i-Watan (Vaterlandspartei) umbenannt. Am Ende seiner Amtszeit dachte Nadschibullah sogar daran, den Mudschaheddin-Führer Ahmed Shah Massud zum Verteidigungsminister zu ernennen.
Karmals Abgang und der Aufstieg Nadschibullahs waren Ausdruck einer neuen politischen Linie der „nationalen Versöhnung“. In seiner Darstellung dieser Zeit schreibt Artemy Kalinovsky: „Von 1985 bis 1987 war die Afghanistanpolitik Moskaus bestimmt durch das Bemühen, den Krieg ohne Niederlage zu beenden. Auch Gorbatschow teilte in gewisser Weise die Befürchtung seiner Vorgänger, dass ein übereilter sowjetischer Rückzug das Ansehen vor allem bei den Staaten der Dritten Welt beeinträchtigen könnte. Aber er wollte den Krieg beenden, und die Mehrheit des Politbüros stand hinter ihm. Die Frage lautete jetzt nur, wie man in Kabul ein neues Regime installieren könnte, das auch ohne die Anwesenheit der sowjetischen Truppen Bestand haben würde.“8
Ohne das Einverständnis der USA, der wichtigsten Schutzmacht der Mudschaheddin, war die nationale Versöhnung allerdings nicht zu realisieren. Die Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über Afghanistan behandelt Kalinovsky in einem eigenen Kapitel. Für Moskau und Kabul erwies es sich als Nachteil, dass die Regierung unter Präsident Ronald Reagan in der Afghanistanfrage uneinig war. In Washington standen sich die „bleeders“ und die „dealers“ gegenüber: Die einen wollten das afghanische Regime „ausbluten“ lassen, die anderen setzten auf einen Deal mit Moskau.
US-Außenminister George Shultz war eine Zeit lang der wichtigste Vertreter der „dealers“. Er wollte den Sowjets entgegenkommen: Falls die Rote Armee aus Afghanistan abziehen würde, könnten die USA ihre Unterstützung der Mudschaheddin aufgeben. Aber die „bleeders“, gestützt auf gewisse Leute in der CIA und die „afghanische Lobby“ im Kongress, glaubten mehr herausholen zu können: Sie verlangten als Vorbedingung, dass die Sowjets sämtliche Hilfen für die Nadschibullah-Regierung einstellen müssten. Diese Position setzte sich schließlich durch. Aus sowjetischer und afghanischer Sicht war die Haltung der Reagan-Regierung indes „völlig unkooperativ“.
Im Februar rollte der letzte sowjetische Panzer nach Norden über die Brücke der Freundschaft, die den Amu-Darja überspannt. Nadschibullah erhielt aber weiterhin Unterstützung. Und die afghanische Regierung konnte sich entgegen allen Erwartungen ziemlich erfolgreich behaupten. Im März 1989 gelang es afghanischen Truppen – nunmehr ohne fremde Hilfe -, die Belagerung von Dschalalabad zu beenden. Hätten die Mudschaheddin die Stadt im Osten der Provinz Nangarhar, nahe der pakistanischen Grenze, einnehmen können, wäre ihr nächstes Ziel Kabul gewesen. Nach ihrer Niederlage vor Dschalalabad waren die sieben Mudschaheddin-Gruppen organisatorisch zersplittert und trotz ihrer hervorragenden taktischen Fähigkeiten nicht in der Lage, eine gemeinsame kohärente Strategie zu entwickeln.
Bei Braithwaite kann man nachlesen, dass vor allem Eduard Schewardnadse große Stücke auf Nadschibullah hielt. Er ging davon aus, dass die Afghanen ewig durchhalten könnten, wenn man sie nur ausreichend mit Treibstoff und Waffen versorgte. Schewardnadse wollte wohl nicht als erster sowjetischer Außenminister in die Geschichte eingehen, der eine Niederlage zu verkünden hatte. Aber als Gorbatschow von Jelzin verdrängt wurde und die Sowjetunion sich auflöste, versiegte der Nachschub nach Afghanistan.
Immer wieder kann man lesen und hören, dass die Niederlage in Afghanistan den Zusammenbruch der Sowjetunion eingeleitet habe. Diese Ansicht ist falsch. Eher ist das Gegenteil richtig. Die wirklichen Gründe hat vor kurzem der Economist benannt: „Das Sowjetsystem brach zusammen, als die höchsten Funktionäre beschlossen, ihre Privilegien zu Geld zu machen und in Privateigentum umzuwandeln.“ Das aber vollzog sich erst unter Jelzin. Als der an die Macht kam, brach das Nadschibullah-Regime zusammen.
Braithwaite berichtet auch, dass Jelzin schon als Präsident der russischen Teilrepublik – also während Gorbatschow noch im Amt war und die Sowjetunion noch existierte – geheime Verhandlungen mit den Mudschaheddin aufgenommen hatte. Sobald der Nachschub aus der Sowjetunion ausgeblieben war, wechselte Raschid Dostum, einer von Nadschibullahs wichtigsten Generälen, ins Lager der Aufständischen. Im April 1992 wurde Nadschibullah gestürzt. Die Hauptstadt fiel unter die Kontrolle unterschiedlicher Fraktionen von Gotteskriegern und ethnisch-nationalen Fanatikern. Zwischen denen brachen, nach einer kurzen gemeinsamen Interimsherrschaft, die erwarteten Fraktionskämpfe aus, während die letzten Anhänger der DVPA das Land verließen oder in den Untergrund gingen.
Auch Nadschibullah versuchte zu fliehen, wurde aber von Dostums Milizionären am Flughafen abgefangen. Während der nächsten vier Jahre versank Kabul in Barbarei und Düsternis – und nicht nur im metaphorischen Sinne: Die Straßenlampen und das Stromnetz der Oberleitungsbusse wurden von Plünderern abmontiert, die kommunalen Dienste wurden eingestellt, die Kämpfe zwischen den verfeindeten Fraktionen machten die halbe Stadt zum Trümmerfeld. In diesen Bürgerkriegsjahren starben 100 000 Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten. Nadschibullah hatte im Kabuler UN-Hauptquartier Unterschlupf gefunden, aber als die Taliban 1996 Kabul einnahmen, griffen sie zu. Der Expräsident wurde verprügelt, gefoltert, kastriert und am Ende erschossen. Die Taliban schleiften seine Leiche mit einem Lastwagen durch die Straßen und hängten sie dann an eine Straßenlaterne.
Obwohl im heutigen Kabul die Besatzungsmacht von der Nato gestellt wird, trifft man in der Stadt noch immer auf Bilder von Mohammed Nadschibullah. Warum? Damals wie heute handelte es sich nicht nur um einen Krieg zwischen Afghanen und fremden Mächten. Es gab auch stets den innerafghanischen Konflikt, vor allem zwischen der städtischen Bevölkerung, die Modernisierung wollte und vorantrieb, und einer Landbevölkerung, die sich jedem sozialen Wandel gewaltsam widersetzte. Beide Seiten fanden mächtige Verbündete im Ausland. Im Kalten Krieg genoss Kabul die Unterstützung der Sowjetunion, während sich die USA und Pakistan auf die Seite der Aufständischen schlugen. Heute dagegen unterstützen die USA – aus einer Reihe von irrwitzigen Gründen – die Kräfte in Kabul, die wieder einmal einen Nationalstaat anstreben. Und von denen einige schon unter Nadschibullah im Amt waren. Dagegen steht Pakistan, obwohl offiziell ein Verbündeter und mit vielen Dollars entlohnter Vasall der USA, noch immer hinter den islamistischen und traditionalistischen Rebellengruppen.
Für eine bestimmte urbane Schicht Afghanistans lautete die wichtigste Frage schon immer: Bringt uns diese oder jene Ideologie auch die Elektrifizierung? Es sind diese städtischen Kreise, die seit den 1920er Jahren versucht haben, die bürokratische Macht der Hauptstadt auf das ganze Land auszudehnen, und damit immer wieder gewaltsamen Widerstand auslösten. Zunächst setzten sie auf die konstitutionelle Monarchie, danach auf die Präsidialrepublik, dann auf den Sozialismus sowjetischen Stils, und am Ende auf Nadschibullahs verzweifelte Beschwörung der nationalen Einheit. Heute ruhen ihre Hoffnungen auf dem äußerst fragwürdigen Experiment, dem Land mithilfe von Nato-Truppen eine liberale Demokratie aufzudrücken. Und so wundert man sich nicht, dass ehemalige Kommunisten auch heute wieder als Modernisierer auftreten und in all den halbwegs kompetenten Teilen dessen anzutreffen sind, was man heute als afghanische Regierung bezeichnet.
Einer dieser Technokraten ist Muhammad Hanif Atmar. Von 2002 bis 2010 war er in der Regierung von Hamid Karsai zunächst Landwirtschaftsminister, dann Bildungsminister und zuletzt Innenminister. Als junger Mann diente Atmar bei den Sondereinsatzkräften des KHAD (die afghanische Geheimpolizei hatte wie der KGB auch einen militärischen Zweig). In der Schlacht um Dschalalabad verlor er ein Bein. Nach dem Sturz des Nadschibullah-Regimes ging Atmar zum Studium nach England, aber nach dem Einmarsch der US-Allianz kam er zurück nach Kabul und wurde bald als kompetenter und ehrlicher Fachmann geschätzt – als jemand, „mit dem der Westen zusammenarbeiten könnte“.
In der Nationalen Sicherheitsbehörde, der Nachfolgeorganisation des KHAD, gibt es heute so viele alte Kader der Parcham-Fraktion aus DVPA-Zeiten, dass die Institution im alltäglichen Sprachgebrauch nach wie vor KHAD heißt. Ein weiterer Technokrat aus den Reihen der DVPA ist Sahir Tanin, der als Ständiger Vertreter Afghanistans bei den Vereinten Nationen dient. Er gehörte bis in die 1980er Jahre hinein zum Zentralkomitee der DVPA.
Vielleicht ist damit klarer, warum in Kabul noch immer Bilder von „Nadschib“ an der Wand hängen. Der Mann mag eine Menge falsch gemacht haben, aber seine Weltanschauung kam immerhin zusammen mit der Elektrifizierung. Krieg allerdings liefert leider keinen Strom..
Aus: Le Monde diplomatique vom 10.8.2012. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages. (Dieser Text erschien zuerst am 7. Mai 2012 in The Nation.)
- Sir Rodric Braithwaite, „Afgantsy: The Russians in Afghanistan, 1979-89“, London (Profile Books) 2011. ↑
- Jonathan Steele, „Ghosts of Afghanistan: The Haunted Battleground“, London (Portobello) 2011. ↑
- Wie Braithwaite spricht auch Steele fließend Russisch; er gehörte zum Team des Guardian, das die WikiLeaks-Dokumente für die Publikation ausgewertet und interpretiert hat. ↑
- Der Träger nannte sich Helmand Valley Authority, nach dem Vorbild der Tennessee Valley Authority, einem der ersten New-Deal-Projekte in den 1930er Jahren. ↑
- Den Brautpreis muss die Familie des Mannes an die Familie der Frau zahlen, was die Braut zum Verkaufsobjekt macht. ↑
- Eine anschauliche Darstellung der gescheiterten Reformen bei Raja Anwar: „The Tragedy of Afghanistan: A First-Hand Account“, New York (Verso Books) 1990. ↑
- Braithwaites will herausgefunden haben, dass der Aufstand und seine Unterdrückung durch das afghanische Militär nicht ganz so blutig verlief, wie es häufig dargestellt wird: In Herat seien nicht etwa hundert, sondern nur drei Sowjetbürger umgebracht worden. Auch das Flächenbombardement, bei dem Tausende umgekommen sein sollen, ist nicht belegt. ↑
- Artemy Kalinovsky, „A Long Goodbye: The Soviet Withdrawal from Afghanistan“, Cambridge (Harvard University Press) 2011. ↑
Schlagwörter: Afghanistan, Christian Parenti, Mohammed Nadschibullah, Sowjetunion, Taliban