15. Jahrgang | Sonderausgabe | 22. Oktober 2012

Die verworrene Grenze

von Hans-Dieter Schütt

Wenn der kleine Junge den Vater küsst, wird ihm das Foto eines Uniformierten hingehalten. Ein Gefangener der Deutschen. Es ist Krieg. Die Bomben. Die Schreie. Die Rückkehr des Vaters. „Später, sehr viel später wird der Wunsch aufkommen, zu erfahren, was das wohl für ein Land ist, das mit so vielen seltsamen, schrecklichen Ereignissen verknüpft war.“„
Alain Lance, der französische Dichter und Übersetzer, 1939 geboren, hat ein Buch über seinen langen Weg nach Deutschland geschrieben. Über die Kindheit nachsinnend, wechselt er von erster zu dritter Person, so, als schriebe er eine Vorgeschichte, in der es ihn selber so richtig noch gar nicht gab. Das wird sich in späteren Kapiteln wiederholen. Distanzbemühen; langsames Erwachen; mähliches Zusichselberfinden, das nie ein Ende hat. Man wird nur einmal geboren, aber man kommt unablässig zur Welt.
Deutsch – im Gymnasium die erste Fremdsprache. 1956 die erste Reise, just nach Tübingen, Hölderlins Ort; eine Fremde wie jede Fremde: „Leere, Entdeckungen und Verwirrung“. Er schreibt sein erstes Gedicht. Da ist einerseits die Notwendigkeit, fürs Germanistikstudium einen längeren Deutschlandaufenthalt nachzuweisen, aber da sind auch die noch immer Hitler-nahen Schwelgereien vieler Westdeutscher. Die Adenauer-Ära. Lance mag dieses Deutschland nicht. Er fährt woanders hin. „Als ich im Spätsommer 1963 Sachsen verlasse, um nach Paris zurückzukehren, bin ich überzeugt, mein Deutschland gefunden zu haben.“
Auf diese Weise kommt er zu Literatur und Literaten der DDR. Das Buch erzählt auf besondere Weise die Geschichte des Landes. Der Kulturbetrieb, die Grenzkontrollen, der weite Horizont der Gespräche, die Enge des Staates, die Freude über den Herbst 1989, die folgende Enttäuschung, dass der dritte Weg unbegangen blieb. Ost oder West? „Kaderwelsch oder Warenknechte“, heißt es im Gedicht „An die Freunde im Osten“.
Im Westen sind es Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf, Günter Grass, die ihm Anreger, Bestätiger sind beim Schaffen geistiger Gegengewichte zur grob materialistischen Welt.
Lance ist dem Land der Deutschen ein besten Sinns fremder Freund; Freundschaft als Courage, auch jene Dinge, die einem nahe sind, wie etwas Fremdes, Kurioses auch, zu betrachten. So erst gehen sie zu Herzen. Begegnungen mit Volker Braun, der zum sehr Vertrauten wird, mit den Wolfs, mit Ludwig Turek, mit Richard Pietraß, mit Stephan Hermlin, mit Ingo Schulze. Ja, ein Jahrhundert und seine Folgen werden besichtigt, in Episoden und Anekdoten, in marginalbewussten, genau gesetzten Mosaik-Texten. Lance steht links, er denkt über die nahezu traditionelle deutsche Misere“ nach, bringt in eigenen und übersetzten Texten den Franzosen Brecht und proletarisch-revolutionäre Autoren nahe.
Als in der DDR die Reihe „Poesiealbum“ erschien und einen europäischen Ruhm begründete (Poesie, als wäre sie eine Zeitung!, und dazu noch für 90 Pfennig Ost!), da war 1977 Alain Lance der Dichter der 114. Ausgabe. Ihm folgte, Geistesbruder zu Geistesbruder, die Nummer 115 – Volker Braun. Darin ein Gedicht über Austern, gewidmet dem französischen Freund, der die Speise-Tierchen aus Paris mitbrachte – für den deutschen Essenstisch, an dem, so erzählt das Gedicht, auch Christa und Gerhard Wolf Platz nehmen. Austern schlürfen: „das/ Leben zwischen Gier und Abscheu/ Zergehen lassen auf der Zunge, ja.“
Brauns Bild für das, was Sinn und Sinne vereint – wie es sie gleichzeitig trennt. Das Anziehende und das Abstoßende; das Schöne und das Hässliche; Genosse sein sollen und Genuss haben wollen; sich wegen der Notwendigkeiten überwinden und sich den Möglichkeiten überlassen – alles Berührung, alles Entfernung. Wünschenswertes und Verwünschtes kommen gemeinsam auf uns zu. In einem Gedicht, zitiert im Nachwort Volker Brauns für das vorliegende Buch, fragt Lance: „Kannst du dem schimmernden Wortfluss noch folgen/ […]/ Um die verworrene Grenze in dir zu betreten“.
Diese verworrene Grenze: der Aufenthaltsort, wo die Spannungen wachsen, so, wie die Lust auf das wächst, was dich in einer Schwebe hält. Lance hat über Deutschland geschrieben, wie man über ein Zentrum des Interesses, der Qualen, der Träume, der Arbeit, der Zweifel, des Staunens schreibt. So ist dieses posenfreie, dieses so kulturbewusst leise Buch zu lesen als Ermunterung für ein Empfinden von Zeit und Raum, das sich nicht mitreißen lässt von den Richtungsangaben der vermeintlichen Wirklichkeitsbestimmer. Freundlich fühlende, fühlend fragende Menschen schreiben andere Bücher als Oberton-Produzenten. Im Wort der Selbstgewissen steckt das Wort Gewissen wie in einer Falle. Lance ist ein Befreier. Erzählt wird mit charmanter Beiläufigkeit. Sprache als etwas, das so wenig herrschen kann wie Frieden. Eine Autobiografie, ja. Provokativ schmal, wo heute doch schon die Erlebnislosesten dickleibig werden. Deutschland als Universität, ein Leben lang – für den einen entscheidenden Lernschritt hin zu dem, was doch unbenotbar bleibt.

Alain Lance: Deutschland, ein Leben lang. Mit einem Nachwort von Volker Braun. Matthes & Seitz, Berlin 2012, 160 Seiten, 17,90 Euro