15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Nachdenken mit Buch. Oder: Adelung mit „Strauß-Format“

von Korff
Im Falle ihres Nicht-Unterganges feierte die DDR am 7. Oktober
den 63. Jahrestag ihrer Gründung. Das ist aus Sicht der Redaktion
zwar kein Anlass für rückwärts gewandte Rührung
– aber allemal einer, über manche der „Vorkommnissee“
von 1989/90 und deren Begleitumstände mal wieder nachzudenken.

 

Was die Autoren Frank Schumann und Heinz Wuschech – der eine in Personalunion auch als sein eigener Verleger, der andere Arzt mit besonderer Affinität zum „Objekt“ – mit dem Titel „Schalck-Golodkowski: Der Mann, der die DDR retten wollte“ vorlegt haben, wäre von der sachlichen Substanz her ein Quellenwerk sui generis zu den deutsch-deutschen Beziehungen, dürfte aber genau deshalb von der Zunft (zumindest öffentlich) weitgehend unbeachtet bleiben. Nicht wenige Spezialisten müssten nämlich anhand dieses Materials ihre Be- und Verurteilungen neu prüfen, weil ihnen nun Zeugnisse einer Person angeboten werden, die ihre Kenntnis der Dinge – hochnotpeinlich bis in jedes Detail befragt, aber auch bewusst ungehemmt – allen interessierten deutschen Geheimdiensten und nicht zuletzt der hiesigen Gerichtsbarkeit zwecks Information und zum Gegenchecken zur Verfügung gestellt hat. Der Wahrheitsgehalt wurde also quasi amtlich überprüft; mehr Gewissheit geht nicht!
Vom 22. Januar bis 16. März 1990 hat Alexander Schalck-Golodkowski in 31 umfangreichen Sitzungen mit wechselndem Personal des BND und einigen Personen, die in dessen Mantel geschlüpft waren, den Befragenden gern und dabei auch häufig überraschende Antworten gegeben, denn die Sachkenntnis seiner Gegenüber war begrenzt und zudem vom Trommelfeuer der Medien getrübt.
Kein DDR-Bürger ist im vereinigten Lande mit soviel Ermittlungs- und Anklageverfahren (rund 50) überzogen worden; heraus kam – soweit Korff erinnert – eine Verurteilung wegen vergleichsweise Läppischem. (Das steht bei Schumann/Wuschech alles genau drin, bitte nachschlagen!).
Das bedeutet, nochmals im Umkehrschluss: Was dieser Mann sagt oder als über sich Gesagtes duldet, kann sachlich nicht – wie gerne geübt – als „Propaganda“ oder „Weißwäscherei“ denunziert werden, was ungeachtet dessen alledings immer weiter geübt werden wird, weil in Bezug auf die DDR Redlichkeit und Rechtskonformität nicht oder nur eingeschränkt gilt. Und richtigstellen kann die auch nichts. Das ist zwar günstig für subjektivistische Bewertungen historischer Ereignisse, aber weniger, wenn man darum bemüht ist, herauszufinden, wie es tatsächlich war und wie es dazu kam.
Häufig wird in Publizistik und Zeitgeschichte ja der ungehinderte Zugang zu Akten und Zeitzeugen der DDR als einmaliger Glücksfall gefeiert. In diesem Kontext will das vorliegende Buch offenbar zur Relativierung von Oberflächlichkeiten beitragen. Da stellt sich natürlich die Frage: Hatte „big Alex“, hat er was zu sagen und auszusagen? Dieser in der DDR jahrelang weitgehend unbekannte Repräsentant seines Staates, der nach den gesellschaftlichen Veränderungen als Inkarnation des „Bösen“ unter den Bösen diente – auch eigenen Kollegen.
Die Autoren beantworten diese Frage, indem sie – wie Korff es mal nennen will – Schalck (annähernd) „Strauß-Format “ zubilligen, wobei ersterer in letzterem seinen Meister sah und wohl auch fand: „In der zweiten Hälfte ihres Lebens wurde die DDR von einem Triumvirat geführt: Honecker, Mittag, Schalck-Golodkowski … Sie waren auch die Schlüsselfiguren in den deutsch-deutschen Beziehungen“, schreiben die Autoren. Sollte dies – bezogen auf Schalck – auch etwas hoch gegriffen sein, gewusst hat er viel, den Rest hat er bei Bedarf wissen können. Er kannte die Tresore, wo auch immer, und er war gern Kaufmann, wurde zusätzlich „Unterhändler“ mit den Eigenschaften eines guten Kaufmanns.
Was die Autoren über und vermutlich auch mit Beihilfe von Schalck in Wort und Bild darüber berichten, ist topp – ungeachtet dessen, dass die Chuzpe des Akteurs Schalck und die Hommage der Autoren an ihn (Die Schrift wird direkt mit dem 80. Geburtstag von „big Alex“ begründet.) bisweilen eine Melange mit Hautgout ergibt. Etwa bei der Beleuchtung des so genannten Schürer-Berichts („Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen“), mit dem nach wie vor „seriös“, weil das Papier von führenden DDR-Verantwortlichen verfasst wurde, die ökonomische Pleite der DDR belegt werden soll.
Ein zentraler Punkt des Berichtes, der seinerzeit praktisch auf die Schlussfolgerung hinaus lief, dass die ökonomische Krise der DDR aus eigener Kraft nicht mehr zu bewältigen gewesen wäre, war die Auslandsverschuldung der DDR. Der Bericht fasste zusammen: „Mit den geplanten Valutaeinnahmen 1989 werden nur etwa 35% der Valutaausgaben insbesondere für Kredittilgungen, Zinszahlungen und Importe gedeckt. 65% der Ausgaben müssen durch Bankkredite und andere Quellen finanziert werden. Das bedeutet, dass die fälligen Zah­lungen von Tilgungen und Zinsen, d. h. Schulden mit neuen Schulden bezahlt werden. Zur Finanzierung der Zinsen müssen mehr als die Hälfte des Einnahmezuwachses des Staatshaushaltes eingesetzt werden. Bei der Einschätzung der Kreditwürdigkeit eines Landes wird international davon ausgegangen, dass die Schuldendienstrate – das Verhältnis von Export zu den im gleichen Jahr fälligen Kreditrückzahlungen und Zinsen – nicht mehr als 25% betragen sollte. Damit sollen 75% der Exporte für die Bezahlung von Importen und sonstigen Ausgaben zur Verfügung stehen. Die DDR hat, bezogen auf den NSW-Export (NSW: nicht sozialistisches Wirtschaftsgebiet – Anm. d. Red.), 1989 eine Schulden­dienstrate von 150%.“ Mit konkreten Angaben zu Verbindlichkeiten und Guthaben im NSW-Bereich wartete der Bericht nicht auf. Dazu zitieren Schumann/Wuschech eine aufschlussreiche Quelle: „In einem Sonderbericht erklärt die Bundesbank 1999, dass die Netto-Auslandsverschuldung der DDR in ihrem letzten Jahr lediglich 19,9 Milliarden D-Mark gewesen sei; knapp zwei Drittel der Verbindlichkeiten wären durch Guthaben der DDR und Kredite gedeckt.“ Pleite sieht anders aus. Im Übrigen – was glaubt der geneigte Leser, die weniger geneigten müssen es ebenfalls hinnehmen, geschah mit diesen Auslandsguthaben der DDR nach der Vereinigung? Haben die sich in Luft aufgelöst, weil der letzte Ministerpräsident der DDR vor allem Dritt-Welt-Ländern, die Kredite der DDR erhalten hatten, Schuldenerlass in Aussicht gestellt hatte? Die düstere Ahnung trügt nicht: Das vereinigte Deutschland hat die DDR-Schulden nahezu auf Heller und Pfennig eingetrieben.
Nun ist – wie Kenntnisreiche hier einwenden könnten – der Ausweis der Deutschen Bundesbank keine wirkliche Neuigkeit, wenn auch nur selten zitiert. Wie aber, wenn man von einem „Täter“ erfährt, dass die Dramatik im Schürer-Bericht durch eine weitere Manipulation zusätzlich verfälscht war? Denn die – neben den Devisenguthaben der DDR – weitere mehr als zwei Milliarden Valutamark umfassende positive Bilanz von Schalcks KoKo hätte das laut Bundesbank-Bericht per se bereits eher undramatische Bild der DDR-Auslandsverschuldung signifikant weiter entschärft. Allerdings – Schürer hatte vom KoKo-Konglomerat keine Detailkenntnis. Und Schalck selbst schwieg bei der Erarbeitung des „Schürer-Berichts“; er berief sich anschließend immer wieder auf die Vergatterung durch den jeweiligen SED-Generalsekretär, KoKo bei Gesamtbilanzen auszusparen. Mit dieser Folge: „Letztlich paralysierte diese ‚Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen’ nahezu den ganzen politischen Apparat der DDR. Aufs Ganze betrachtet“, so Schumann/Wuschech, „war der ‚Schürer-Bericht’ der Sargnagel für die DDR.“
Nun war da aus vielerlei Gründen schon „ein Sarg für die DDR gezimmert“, um im Bild zu bleiben. Aber warum, in wessen Interesse zum damaligen Zeitpunkt dieser Nagel? Waren da etwa doch auch ausländische Interessen im Spiel und vielleicht schon länger agierende oder rasch gewendete Sachwalter dieser Interessen in der DDR? Auf jeden Fall war der Schürer-Bericht eine Art Startschuss für manche „Insider, sich ganz individuell so oder so zu positionieren – auch durch ungewohnte „Entäußerungen“.
Irgendwie erinnern die „Gewissensentscheidungen“ jener Wochen an klassisch gewordene Worte einer früheren Zeit. „Die Charaktere fingen an, sich zu entblättern gleich den Bäumen des Herbstes in einem Nachtfrost“, wie Jakob Grimm 1837 als Mitglied der „Göttinger Sieben” in einer politischen Entscheidungssituation bekannte, der er sich charakterlich nicht zu entziehen vermochte, obgleich die gewiss nicht sein Gewerbe betraf. Er und die anderen Sechs hatten gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestiert. Sie wurden entlassen; den Hofräten und Professoren Grimm und Friedrich Christoph Dahlmann sowie dem Professor Georg Gottfried Gervinus wurde zudem auferlegt, binnen drei Tagen die Universität und das Königreich zu verlassen. „Weder nach Beifall gelüstet hat mir, noch vor Tadel gebangt, als ich so handelte, wie ich mußte”, begründete Grimm nachmals sein Tun. Doch nicht jeder hat in vergleichbarer Situation diesen Impetus – unabhängig vom System. Hier soll allerdings auch daran erinnert werden, dass manche in der DDR ihn 1989/90 hatten, was sich in unterschiedlichen Handlungen oder Unterlassungen äußerte.(Es gab ja zum Beispiel Waffenträger, die eben nicht versuchten, um jeden Preis die Macht und die eigenen  Positionen zu erhalten. Da war sehr wohl etwas abzuwägen.
Der Schürer-Bericht so bleibt festzuhalten, wurde dem SED-Politbüro am 31. Oktober 1989 präsentiert und veranlasste die Führung der SED/DDR in entscheidendem Maße zu einer rigorosen Wende, die sich auch darin manifestierte, dass der damalige Ministerpräsident Hans Modrow bereits Anfang Dezember 1989 von der Möglichkeit einer deutschen Konföderation sprach, was letztlich eine mögliche Aufgabe der DDR mit einschloss, und dies mit der wirtschaftlichen Situation des Landes begründete.
Um unterschiedlichen Vermutungen hinsichtlich seiner eigenen Position gegenzusteuern, lieferte Schalck am „Ende seiner Dienstfahrt“ – nach der Flucht aus der Mietswohnung (Schalck betont diesen Umstand ausdrücklich), Manetstr. 16 in Berlin-Hohenschönhausen, ins neue Domizil am Tegernsee folgendes Selbstzeugnis ab: „Am Anfang herrschten Fassungslosigkeit, Ungewissheit, zeitweilig Verzweiflung. Jetzt überwiegt Gelassenheit. Ich sehe klar, dass das Ende der DDR zwangsläufig war, sowohl auf Grund äußerer Umstände, als auch wegen der inneren Verfassung unserer Gesellschaft. Das System des real existierenden Sozialismus hatte nach 40 Jahren abgewirtschaftet und war nicht reformierbar … Die deutsche Wiedervereinigung war, alles in allem, ein Glücksfall.“ Dieses Fazit findet sich allerdings bei Schumann/Wuschech nicht, jedenfalls nicht so. Was bemerkenswert ist, denn es steht auf Seite 340 in Schalcks eigenem Buch „Deutsch-deutsche Erinnerungen“, das bereits 2000 bei Rowohlt erschienen war und das die Autoren, so Korffs Eindruck bei einem Vergleich, im Übrigen sehr wohl als materialergiebige Unterlage für ihre eigene Schrift verwendet haben dürften.
Das Resümee der Autoren – Korff zitiert gern korrekt aus dem Schumann/Wuschech, dessen Titel wohl auch mit einem Augenzwinkern formuliert worden ist, – lautet etwas weniger euphorisch: „Daß ihm die wundersame Rettung der DDR nicht gelang, ist nicht Schalck-Golodkowski zuzuschreiben. Sie konnte objektiv nicht gelingen: Das Modell, dem die DDR folgte, war unter den herrschenden Umständen – den inländischen wie den auswärtigen – nicht reparabel. Daß das andere System … erheblich besser ist, als das untergegangene und darum im Unterschied zu diesem eine Perspektive habe, muß erst noch bewiesen werden. Übrig geblieben zu sein, ist kein Beweis.“
Der letzte Satz hat das Zeug zum Aperçu! Im Übrigen bestätigt das Buch, was Korff anderswo fand: Tempora mutantur, et nos mutamur in illis – die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen. Mitunter vergessen wir aber, anderen davon Mitteilung zu machen. Schalck nicht!

Frank Schumann/Heinz Wuschech: Schalck-Golodkowski: Der Mann, der die DDR retten wollte, edition ost, Berlin 2012, 191 Seiten, 12,95 Euro