Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 10. Dezember 2007, Heft 25

Abschied vom Hotel »Lux«

von Wladislaw Hedeler, Moskau

Seit Anfang des Jahres ist in Moskau die Kantine im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte geschlossen. Der kleine Speiseraum mit dem gewaltigen Samowar wird zu einer Cafeteria umgebaut. Angesichts der bereits vorhandenen Cafés und Restaurantketten (Moskauer Gastronomie, Das Blättchen, 20/2002) im Viertel, das die Generalstaatsanwaltschaft und den Föderalrat beherbergt, scheint das keine besonders originelle, wenngleich einträgliche Idee zu sein. Im Sommer übernahm die Versorgung der Mitarbeiter und Nutzer der Bierausschank am Lenindenkmal hinterm Archivgebäude. Man speiste mit Blick auf das Haus des Moskauer Stadtsowjets. Wer über das nötige Kleingeld verfügte, konnte im Aragwi essen. Das Restaurant befindet sich im bis zur Unkenntlichkeit umgebauten Gebäude des ehemaligen Hotels Dresden. Es ist ein zum Komintern-Archiv passender geschichtsträchtiger Ort. Hier wohnten die zum ersten Kongreß der Komintern 1919 angereisten Ausländer.
Auf der Suche nach einer Kantine, in der es etwas anderes als das überteuerte Business-Lunch-Angebot gibt, versuchte ich es schließlich im Hotel Zentralnaja, dem einstigen Hotel Lux in der Twerskaja. Ein Kollege hatte mich auf den Gedanken gebracht, die zum Bürohaus umfunktionierte einstige Komintern-Absteige, deren Umbau ebenfalls bevorsteht, aufzusuchen. Im ehemaligen Gesellschaftszimmer des Hotels kann man preiswerter essen als im Café im ersten Stock. So ließ sich bei diesem Ausflug in die Geschichte das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Obwohl es schon Nachmittag war, wurde es an diesem Novembertag nicht richtig hell. Der wolkenverhangene Himmel war grau, dazu pfiff ein kalter Wind. Die zur Twerskaja ansteigenden Nebenstraßen waren zugeparkt, der Schnee von den Passanten zu einer schwarzen unebenen Eismasse festgetreten.
Auf dem Platz mit dem Denkmal für Juri Dolgorukij tuckerten zwischen den hier abgestellten Nobelkarossen einige Busse der Spezialeinheit der Moskauer Miliz. Am Wochenende sollte auf dem nahegelegenen Puschkinplatz eine Kundgebung der »Nichteinverstandenen« stattfinden. Die ursprünglich geplante Demonstration der Opposition hatte die Stadtverwaltung verboten. Nun warteten die Jungs in den Tarnanzügen darauf, den von »ausländischen Diensten geschulten Provokateuren« eine Lektion zu erteilen. Schließlich stand Moskau geschlossen hinter Putin. Rußlands Präsident hatte immer wieder an den Patriotismus seiner Landsleute appelliert und seine Mitbürger, »die um die westlichen Vertretungen herumschleichen«, mit Schakalen verglichen.
In Rußland scheint sich vieles zu wiederholen. Das Marxzitat, in dem von der Tragödie und der Farce die Rede ist, bleibt aktuell. Schon einmal, nur ist es siebzig Jahre her, galten Kontakte zu Konsulaten als Straftatbestand und Verhaftungsgrund. Ein entsprechender Geheimbefehl war im Gebäude am Lubjanka-Platz verfaßt worden. Nach seiner Rede im Lushnikipark ist kaum zu glauben, daß Putin am »Tag der Opfer politischer Repressalien« nach Butowo gefahren sei.
Im Eingangsbereich des Lux scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Der Hofbäcker Fillipow, in dessen Laden sich heute ein Kaffeehaus befindet, hatte das Hotel 1911 bauen lassen. Das Ambiente hier ist wie bei Jelisejew nebenan. Vergoldete Spiegel, Marmor, Kronleuchter, das Treppenhaus um den schmiedeeisernen Fahrstuhlschacht mit klassizistischem Stuck auf himmelblauem, bröckelnden Grund geschmückt.
Wer ist hier nicht alles ein- und ausgegangen. Die Verhaftungskommandos in den Wagen, die 1937 vor dem Hotel Lux vorfuhren, hatten Routine. Die Fahrer, vor dem Hotel angekommen, stellten den Motor gar nicht erst ab. Es dauerte zumeist nicht lange, und die Uniformierten kamen mit dem Festgenommenen heraus.
Früher wurde man bereits an der Tür gefragt, zu wem man wolle, heute heißt es nur »Wohin?«. Ich sage: »Ins Café«, bekomme: »Zweiter Stock« zur Antwort und darf passieren. Ich hätte auch »zum Zahnarzt«, »ins Kaderzentrum« oder »zu Pronto« sagen können. Auf den Etagen sind Notare, Übersetzungsbüros, Steuerberater, Reiseveranstalter und sonstige Firmen mit Phantasienamen und schwer zu entschlüsselnden Abkürzungen untergekommen. Die reicheren Firmen belegen gleich mehrere Zimmer. Wer einen Termin hat, wartet auf den langen Fluren, bis an ihn die Reihe kommt. Immer wieder öffnen sich die schweren Türen, die fast bis an die Decke reichen und geben den Blick in die Zimmer frei.
Da niemand die Nummerierung der zu Büros umfunktionierten Hotelzimmer geändert hat, ist es sehr leicht festzustellen, wer hier einst logierte, ob er oder sie den Terror überlebte oder nicht. Zwischen März und Dezember 1937 wurden nach unvollständigen Angaben 56 Komintern-Mitarbeiter aus zwanzig Nationalitäten im Lux als Spione, Volksfeinde, Schädlinge oder Terroristen verhaftet, anschließend zum Tode verurteilt, erschossen und in Butowo bei Moskau oder auf dem Donskoe-Friedhof verscharrt. Unter den zwölf Deutschen, die 1937 im Lux verhaftet wurden, waren Hugo Eberlein, Hermann Remmele, Kurt Sauerland, Luzi Bauer und Hilde Tal. Im Zimmer, in dem der Übersetzer Bernhard Bartels bis zur Verhaftung wohnte, ist heute ein Übersetzerbüro untergebracht.
In der zweiten Etage des Lux gibt es kaum eine Tür, deren Nummer nicht mit einem Verhafteten in Verbindung gebracht werden kann. Nach dem Umbau des Hotels, das dann wieder den alten Namen tragen wird, wird auch diese letzte Spur verschwunden sein