von Renate Hoffmann
Welch poetischer Klang: „Weit hinaus im Meere ist das Wasser so blau wie die Blütenblätter der prächtigsten Kornblume und so klar wie das reinste Glas, aber es ist außerordentlich tief, tiefer als irgendein Ankertau reicht; … Dort wohnt das Meervolk.“
Natürlich kennt sie jeder, oder doch jeder zweite – „Den lille Havfrue“, wie die Dänen sie nennen. Ein zierliches, sinnendes Fräulein mit traurigen Augen. Den nebelzarten Schleier neben sich, von dem es heißt, wenn er im Wind wehe, dann dächten die Menschen, die nichts von den Geheimnissen der Tiefe verstünden, es sei ein Schwan, der die Flügel ausbreite.
Sie sitzt auf einem Granitblock, der aus dem Wasser ragt und einem „Cairn“, dem vorgeschichtlichen Hügelgrab, ähnelt. Man vermeint Andersens Worte zu hören: „Manchen Abend und Morgen stieg sie zu der Stelle empor, wo sie den Prinzen (den sie liebte, d.A.) verlassen hatte, … aber sie sah ihn nicht, und immer trauriger kehrte sie deshalb wieder heim.“
Die Schöne wendet sich etwas ab vom Touristenstrom, der auf Kopenhagens Uferpromenade Langelinie zu ihr pilgert; um ein Foto zu erhaschen, oder sie zu berühren, oder ihr einen Wunsch ins Ohr zu flüstern. Sie ist von kleiner Statur und in sich gekehrt (Meerjungfrauen sind keine Heroinen!). Über ihr am Kai blühen gelbe Rosen. Sie hat keinen Blick dafür.
Besucher drängen sich, versuchen, auf den Ufersteinen balancierend, trocken zu ihr hinüber zu gelangen. Männer tätscheln ihre Schenkel, die in einem Fischschwanz enden. Kinder fragen: „What’s her name?” Das wissen die Erwachsenen auch nicht. „That is the little mermaid”, helfen sie sich aus der Verlegenheit. Man hat wohl vergessen, Hans Christian beizeiten zu fragen, welchen Namen seine Seejungfrau trägt. Er erzählt nur, sie sei die jüngste von sechs Meerprinzessinnen gewesen, „aber die schönste von allen, ihre Haut war so durchsichtig und fein wie ein Rosenblatt, ihre Augen so blau wie das tiefste Meer, aber wie alle die anderen hatte sie keine Füße, der Körper ging in einen Fischschwanz aus.“ Und dieser Umstand war es letztlich, an dem die Liebe der kleinen Seejungfrau – die vielleicht Bella Margarita, Schöne Perle hieß – scheiterte.
Abseits vom Trubel lagert eine Familie im Grünen. Der Vater liest vor. Die Töchter hören ihm aufmerksam zu. Sie erfahren, dass die Meerjungfrau wunderbar tanzen und singen konnte, aber ihre Stimme verlor, weil sie durch eine Hexerei den Fischschwanz in zwei Beine wandeln ließ, um ihrem Menschenprinzen nahe zu sein. Doch er nahm eine andere zur Frau. Und Bella Margarita wurde zu salzigem Meerschaum. – Die Kinder sind still und ein wenig traurig. Der Vater tröstet sie. Es sei ja noch nicht das Ende der Geschichte. Die Seejungfrau würde in das Reich der Luftgeister aufgenommen, und das wäre doch auch ein angenehmer Zustand, so auf und ab zu schweben.
Dass sie hier thront, die kleine melancholische Träumerin aus Bronze, verdankt sie der fantasievollen und empfindsamen Erzählweise ihres Autors H. C. Andersen (1805 bis 1875). Adelbert von Chamisso schrieb an ihn: „Sie haben einen müden, alten, kranken Mann hocherfreut. Das ist wieder die volle wunderherrliche Poesie der Kinderjahre – unvergleichlich. Das macht Ihnen keiner nach in unserer widerwärtigen Zeit.“
Hans Christian A. war beileibe nicht der erste, den die zarten Wesen der Gewässer umgarnten. Aber sie umgarnten ihn. „Während einer anderen größeren Arbeit“, erinnert er sich, „kam mir die Idee einer neuen Erzählung, die kleine Meerjungfrau, sie blieb beständig in mir. Ich musste sie niederschreiben.“
Bereits Plinius, den Älteren (23-79 n. Chr.) hatten sie betört, die weiblichen Wassergeister. In seiner berühmten Naturgeschichte teilte er mit, die See „wimmele“ von Meerjungfrauen (vielleicht sah er höchst irdische Gestalten – bei so viel Gewimmel?). Zwischen Plinius und Andersen tauchen die Seefräulein in Vielzahl auf. Insbesondere den Seefahrern galten sie als gutes Omen für eine glückliche Fahrt, weswegen sie die hübschen Geister als Galionsfigur am Schiffsbug anbrachten.
Hans Christian Andersen ließ sich anregen und regte andere an. Sein Kunstmärchen wurde zu Musik, verwandelte sich in Malerei, bot Anlass zum Weiterfabulieren in der Literatur – und drängte danach, getanzt zu werden.
Dies geschah am 26. Dezember 1909. Premiere im Kopenhagener Königlichen Theater. Musik: Fini Henriques; Choreografie: Ballettmeister Hans Bech. Die Aufführung wurde zu einem der größten Erfolge in der dänischen Tanzszene. Die kleine Seejungfrau hieß Ellen Price de Plane, Primaballerina des Hauses. Unter den Besuchern saß Carl Jacobsen, Verehrer der Künste, im Braugewerbe tätig, wohlhabend. Ihm gefiel Andersens Geschichte – und die Primaballerina. Er beschloss, der Stadt ein Abbild der kleinen Seejungfrau zu schenken. Den Auftrag dazu erhielt der Bildhauer Edvard Eriksen. Es verstand sich von selbst, dass die Skulptur Ellens feine Gesichtszüge trug. Für den wohlgeformten Corpus stand sie als Modell allerdings nicht zur Verfügung. Diesen Teil der Vorlage übernahm Eriksens Frau. Zusammengefügt ergab sich ein Musterbeispiel weiblicher Vollkommenheit.
Da sitzt es nun das kleine Meerjungfräulein, oben Ellen Price, unten Eline Eriksen und musste, außer fotografiert und abgeküsst zu werden, manches über sich ergehen lassen. Man übergoss sie mit Farbe, legte ihr eine Stirnbinde an, zwängte ihr eine Harpune unter den Arm, behängte sie mit Plakaten und dem Schal eines Fußballclubs. Sie wurde verhüllt (Christo war es meines Wissens nach nicht), in eine Burka gekleidet und erhielt einen Bikini aufgemalt. Sie verlor ihren schönen Kopf und den rechten Arm. Man löste sie vom Stein und stieß sie ins Meer. Da Seejungfrauen 300 Jahre alt werden, überlebte sie die Untaten. Es sei jedoch auch gesagt, dass zu ihrem 75. Geburtstag (1988) eine Blumengirlande ihren Hals schmückte. Ein stiller Liebhaber oder die Stadtväter?
Um weiteren Verunglimpfungen vorzubeugen, sollte man der kleinen Seejungfrau den „Standhaften Zinnsoldaten“ zur Seite stellen.
Schlagwörter: Edvard Eriksen, Hans Christian Andersen, Kopenhagen, Renate Hoffmann, Seejungfrau