Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 1. Oktober 2007, Heft 20

Schaurig-schön

von Renate Hoffmann

Es steht ein Baum im Odenwald, der hat viel grüne Äst; / da bin ich schon viel tausendmal bei meinem Schatz gewest …« Diesen Text findet man im Volksliederbuch Des Knaben Wunderhorn, von den Brüdern im Geiste und des Herzens Clemens Brentano und Achim von Arnim herausgebracht.
Der alleinstehende besungene Baum vermehrte sich inzwischen zu einem ausgedehnten Waldgebiet, in dem noch eine andere Besonderheit steht. Ein juristisches Vollstreckungsinstrument. Ein Galgen. Hochgelegen (natürlich auf dem Galgenberg) bei Beerfelden. Er trägt ein seltsam anmutendes Prädikat, nämlich der »besterhaltene dreischläfrige Galgen Deutschlands« zu sein. Dreischläfrig? Was mag es bedeuten? Die Neugier überdeckt den Schauder.
An einem frühsommerlichen Morgen – besser als spätabends im Herbst – wandere ich den Weg von Beerfelden nach Airlenbach hinüber. Er führt zur Höhe. Verspricht eine schöne Aussicht, den Blick übers Land. Lerchen steigen in die Luft. Die eitelgelben Rapsfelder duften, und der Himmel blaut. Beinahe hätte diese morgendliche Sinnenfreude das dunkle Vorhaben verdrängt.
Da liegt sie vor mir – die Richtstätte. Wie das Bühnenbild zu einem Schauerdrama, in dem letzter Augenblick und irdische Überfülle aufeinandertreffen. Vertikal gestellte Steine begrenzen den weithin sichtbaren Platz. Fünf Linden, dazu Eiche und Buche bilden einen feierlichen Kreis. Doch Blickfang bleibt der »Dreischläfrige«.
Nun sieht man, wie es sich mit ihm verhält: Drei rote Sandsteinsäulen, in ihren Teilstücken mit Bandeisen für die Dauer gefestigt und im Dreieck aufgestellt. Säuberlich und kunstvoll gearbeitet. Sie ruhen auf einer Wulstbasis und enden, nach oben verjüngt, in einem Kapitell. Fünf bis sechs Meter mögen sie wohl hinaufragen. Wer denkt schon an ein Hochgericht – wären da nicht drei aufgelegte verbindende Balken, an denen Ketten hängen …
Um die Szene zu runden, fliegt eine Nebelkrähe, wie aufs Stichwort des Souffleurs, in das Lindengeäst und schreit heiser. Das große Panorama aus Wiesen, Bergen und Wäldern, mit Ortschaften, Alleen und Heckenzügen wird klein und tritt zurück.
Vor dem »besterhaltenen« Galgen, der in dieser Form 1597 einen weniger stabilen seiner Art ablöste, ist im Boden eine steinernes Kreuz eingelassen. Hier nahmen die Verurteilten Abschied vom Diesseits und empfingen Ermutigung für den Eintritt ins Jenseits. Ob das im Anblick des grandiosen Rundhorizontes half? Das letzte Urteil, so liest man auf einer Tafel, wurde 1804 vollstreckt. Es traf eine Zigeunerin. Sie hatte ein Huhn und zwei Laib Brot gestohlen … Minuten der Betroffenheit.
Dann wechselt die Krähe mit der Lerche. Und die Szenerie umgebender Natur gewinnt die Oberhand. Ich nehme Wanderkurs auf die Wälder, in denen vielleicht irgendwo noch der Wunderhornbaum steht. Gewiß aber sein Nachwuchs.