von Jörn Schütrumpf
Im Dezember 1989 reichte ein Verlag, der bis wenige Wochen zuvor den jeweiligen SED-Linien treu gefolgt war, einem, ebenfalls bis wenige Wochen zuvor eher als zu liberal beargwöhnten, Historiker sein umfangreiches Manuskript zurück – mit der Begründung, es sei das Wort Kapitalismus verwendet worden. Undruckbar, wurde dem überraschten Autor beschieden; es heiße doch Marktwirtschaft. Am Abend in einer Ostberliner Kneipe konnte sich ein Westberliner Kollege darüber kaum beruhigen; er versicherte hoch und heilig, bevor er in die S-Bahn Richtung Friedrichstraße gestiegen sei, habe er ihn noch gesehen – den Kapitalismus.
Wenig später sprach auch er nicht mehr vom Kapitalismus; die lähmenden neunziger Jahre im Zeichen einer an Schlichtheit kaum überbietbaren weltanschaulichen Reaktion – Stichwort: »Ende der Geschichte« – waren ausgebrochen. Heute hat sich das Bild abermals gewandelt: Man kann neuerdings sogar aus der Führeretage der SPD das Wort Kapitalismus vernehmen. Nur was es genau bedeutet, sagt niemand. Es ist ein Bauchwort, unter dem sich jeder das Seine vorstellen darf – und das deshalb keinem ernsthaft wehtut.
Heftiger Protest bei unseren Marxisten: Karl Marx hat ganz genau erklärt, was Kapitalismus ist. Was interessiert es da, daß Karl Marx nie von Kapitalismus sprach und diese »Weiterentwicklung« ein Produkt eines nicht-Marxschen Marxismus ist. Der erklärte Nicht-Marxist Karl Marx kannte nur Gesellschaften, in denen Produktionsweisen herrschen; die kapitalistische, von der er Wesentliches entschlüsselte, hielt er für menschenfeindlich und für nicht überlebensfähig.
Der »Rest« war für Karl Marx ganz einfach. Er wünschte sich eine nach-kapitalistische Produktionsweise, die nicht im Widerspruch zum Charakter der Gesellschaft stehe: friedlich, demokratisch, emanzipatorisch – herbeigeführt durch eine Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Die »Ausführungsbestimmungen« überließ er, weise, wie er war, jedoch seinen Nachfolgern; vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zweifellos ein seriöses Vorgehen.
Genossenschaften fand Marx nicht schlecht; die begeisterten auch die von ihm bekämpften Anarchisten, während die »Marxisten« immer häufiger Vergesellschaftung mit Verstaatlichung verwechselten: Sozialismus nicht durch Selbstbestimmung, sondern durch das Wirken eines die Gesellschaft umbauenden Staates; nicht Ergänzung der formalen Freiheiten durch die sozialen, sondern bestenfalls deren Austausch. Einige, die bis 1989 oben, mindestens aber in der Mitte saßen, finden das heute noch toll und können nicht verstehen, warum die Proleten nach vier Jahrzehnten »Arbeitermacht« ihre eigene soziale Vernichtung wählten. So toll war es für die unten nicht gewesen, auch wenn es oft toll zuging.
Außer bei Heinz Dieterich (Rothenburg an der Wümme/Mexiko-City), der vorschlägt – nun computergestützt –, noch einmal am lebenden Menschen mit einer Zentralstaatsplanwirtschaft zu experimentieren (er bleibt solange in Mexiko), und bis auf seine betagte Fangemeinde aus der einstigen DDR-Dienstklasse herrscht ziemliche Ratlosigkeit über eine nach-kapitalistische Produktionsweise. Eine Idee, gar eine Idee, die die Massen ergreift, ist nicht in Sicht; nicht einmal eine Idee, an der sich eine auf fremde Bajonette gestützte Partei so berauschte, daß sie abermals den Staat zu ergreifen suchte.
Was tun? Wenn einem gar nichts mehr einfällt, könnte man einen Moment lang Marx ernstnehmen, statt seine vom Kapitalismus schwatzenden Apostel, und hinschauen, was der Mann wirklich gemeint hat. Rezepte sind da zwar nicht zu holen, aber Anregungen wohl doch. Für eine Wirtschaft, die nach den Regeln der kapitalistische Produktionsweise funktioniert, ist letztlich der Gebrauchswert der produzierten Dinge völlig gleichgültig. Entscheidend für sie ist der sogenannte Wert der Dinge und der ihnen durch die Ware Arbeitskraft – die über die Fähigkeit verfügt, mehr Wert zu produzieren, als für ihre eigene Reproduktion notwendig ist – hinzugefügte Mehrwert. Diese Wirtschaft entwertet alle nicht im Preis ausdrückbaren Werte und produziert Entfremdung, Aggressivität, Hierarchien, Unterdrückung und Ausbeutung aller Art. Sie verformt den Menschen aus einem gesellschaftlichen Wesen zu einem Agenten der Mehrwertproduktion.
Auf der anderen Seite steht die Gesellschaft, die ohne Produkte nur schlecht existieren kann, an der Wirtschaft aber lediglich soweit interessiert ist, wie Gebrauchswerte produziert werden; dem sogenannten Wert gegenüber aber verhält sie sich letztlich gleichgültig. Die Stichworte für Gesellschaft lauten Kooperation, Frieden, Bildung, Emanzipation. So stehen beide, Wirtschaft und Gesellschaft, in der zentralen Frage »Wert – Gebrauchswert« zueinander in einem reziproken Verhältnis – unverträglich wie Feuer und Wasser. Und können trotzdem nicht voneinander lassen – die Wirtschaft kann zwar die Gesellschaft schlimmer als ein großer Krieg verheeren, aber nur um den Preis, am Ende den Wirt zu verlieren, auf dem sie nistet. Umgekehrt gilt ähnliches, es sei denn, es bräche eine Wirtschaftsform hervor, die dem humanen Charakter von Gesellschaft entspräche. Wie es damit ausschaut – siehe oben.
Solange keine menschengerechte Produktionsweise freisetzbar ist (seriöse Vorschläge bitte an Das Blättchen), kann Politik dazu dienen, den nicht suspendierbaren Kampf zwischen Gesellschaft und Wirtschaft auszutragen. Die jüngste Runde – im Zeichen des Neoliberalismus – ging an die Wirtschaft, denn die janusköpfige Sozialdemokratie war ihr wichtigster Alliierter – in Berlin sekundiert von der Linken.
Das wird aber nicht so bleiben; der soziale Druck wächst, die Faschisten haben Zulauf. Doch bleiben wir bei der Linken. Wenn sie auf dem Politmarkt mehr als nur ein kurzzeitiger »Wert an sich« sein will, wird sie zur Zügelung der kapitalistisch verfaßten Wirtschaft um gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen müssen statt die Neoliberalen zu kopieren oder den »Systemwechsel« zu intonieren. In welches System soll denn die Reise gehen? Daß bei diesem Kampf Wege freigelegt werden können, die aus dem kapitalistischen Jammertal herausführen, ist wünschenswert und gut möglich, aber keinesfalls verbürgt. Doch selbst wenn dieser Fall nicht eintrete, wäre eine Gesellschaft, die die kapitalistische Produktionsweise täglich aufs neue bändigt, lebenswerter, als eine, die – wie im Moment – vor dem Neoliberalismus hosenvoll kapituliert.
Ob der wachsende soziale Druck dauerhaft die Faschisten nach oben bringt oder die Parteien der Mitte zu einem Mitte-Links-Bündnis, das anders als in Berlin ernsthaft soziale Politik gegen eine entfesselte Wirtschaftselite macht – die dabei ist, die Kontrolle über ihr verantwortungsloses Treiben zu verlieren –, hängt wesentlich von der Linken ab. Es geht um breite Bündnisse von links bis tief in die Mitte, für die der Marxismus des 20. Jahrhunderts wenig zu bieten hat.
Eher schon das Denken eines Karl Marx, also das des 19. Jahrhunderts, der nicht mit nichtssagenden Bauchwörtern herumfaselte und so die Verhältnisse verkleisterte, sondern, weil er die Emanzipation von Ausbeutung und Unterdrückung ernsthaft wollte, bei ihrem Namen nannte.
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