13. Jahrgang | Nummer 11 | 7. Juni 2010

Arturo Ui in Delaware

von Charles Helmetag, Philadelphia

Heinz-Uwe Haus, dem einstigen Berliner Regisseur, der seit Jahrzehnten in den USA als Theatermacher vor allem mit Brechts Stücken immer wieder nationale Aufmerksamkeit gewinnt, ist mit der Inszenierung des Aufhaltsamen Aufstiegs des Arturo Ui am Repertory Ensemble Theatre in Delaware erneut ein spektakulärer Erfolg gelungen. Das erst vor eineinhalb Jahren gegründete, einzige permanente Ensembletheater des Staates, affiliiert mit der Universität Delaware, ist dem klassischen und internationalen Repertoire verpflichtet. In der zuendegehenden Spielzeit waren in Werken von Shakespeare, Oliver Goldsmith, Bernard Shaw, Brian Friel, William Inge, Doug Wright und Tennessee Williams die Leistungskraft der neuen Truppe zu bewundern. Doch mit der Inszenierung des Arturo Ui hat das Ensemble weit über die Ostküste hinaus Aufmerksamkeit gefunden.
Ohne Zweifel kann dieser Ui neben den beiden berühmtesten Aufführungen der Parabel stehen: Peter Palitzsch’ (1959) mit Eckehard Schall und Heiner Müllers (1995) mit Martin Wuttke. Wie diese schafft es Haus mit der Hauptdarstellerin, Carine Montbertrand als Ui, sich auf die einst umstrittene Dramaturgie der Szenenfolge einzulassen, die einen kritischen Zuschauer mit aktuellen politischen Interessen anspricht. Es wird Brechts Aufforderung vertraut, das Stück in die triviale Umgebung der amerikanischen Gangsterwelt der 30er Jahre zu versetzen. Kein Aufguß einer Nazi-Persiflage, wie sie hierzulande bequem zu haben ist, beherrscht das Geschehen, sondern gefährliche Parallelen zur eigenen gesellschaftlichen Ordnung werden abgebildet. Uis “Blumenkohlkapitalismus” hat die Profitmaximierung als ökonomische Zielsetzung. Es geht um Märkte, Arbeitskräfte und Ressourcen. George Taboris Adaption von 1966, die Brechts Chicago-Berlin auf Brooklyn und Wallstreet erweitert, erweist sich als Gangsterspektakel, dessen aktuelles Potential nicht kalt läßt. “Heutige Führungseliten sind zumeist eben nur blaß neben Hitlers Ganoven und Al Capones Killern, das Wasser können sie ihnen durchaus reichen, wenn wir als Demokraten nicht aufpassen” beschreibt der Regisseur in einem Publikumsgespräch, warum er das Schlußwort, nach dem der “Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch” beibehalten hat. Die Figuren und Vorgänge sind roh und schnöde und bringen raue, verdeckte Wahrheiten aus God’s own country ans Licht. Brecht, der unwiderstehliche Theatermacher, kommt in unerwarteter Kraft und Unterhaltung zur Wirkung, indem, wie er es fordert, Uis “äußerste Korruptheit, Unzulänglichkeit, Brutalität” betont wird. Sechzehn Darsteller verkörpern die mehr als vierzig Figuren in Masken, die der expressiven Welt George Grosz’ entlehnt sind. Als Gang, in Ledermänteln und Fedoras, geben sie vor jeder Szene die Lesart der “Jahrmarktshistorie” (Brecht) als eine sich stets wandelnde Terrormaschine, die lockt, verführt, zugschlägt. Lange vor Beginn der Vorstellung lungert sie wort- und regungslos, wie zum Sprung bereit, auf der kargen Hinterbühne, während im barocken Zuschauerraum zwei von ihnen mit Saxophon und Klarinette der Klavierspielerin beispringen. Eine Ouvertüre aus Hits der 20er und 30er Jahre verspricht das rechte powerhouse, eine Jazzkomposition von Raymond Scott,d ie jeder kennt. Die Texte und Sketches sind den aktuellen Medien- und Wahlkampfindoktrinationen entnommen, zum Teil vom Tage (zum Beispiel Treibhauseffekt und Obamas Health Care Gesetz). Sprechchöre, Märsche, Tapdance und Gesänge passen sich ein in die verstümmelten, verhunzten, misshandelten fünffüßigen Jamben, die Brecht den Gangstern in den Szenen verpasst, was das Erschrecken über die anscheinend unaufhaltsamen Vorgänge verstärkt.
Wie Carine Montbertrand vom stammelnden Troll allmählich zur krakeelenden Körpersprache eines ruchlosen Rhetorikers findet, ist ein schauspielerisches Feuerwerk, das kaum seinesgleichen findet. Anfangs betont sie den krankhaft hysterischen und mit allen Mitteln nach Anerkennung und Macht gierenden Kleinkriminellen. Wie Richard III versichert sie sich des Publikums als self made man. Die kleine und zierliche Darstellerin ist eine Meisterin des Slapsticks, sie schafft Verfremdungen wie im Handumdrehen – vom gefährlichen Clown zur beißenden Dogge, vom billigen Cartoon zum geschniegelten Wahlkampfauftritt, den man tagtäglich bei CNN verfolgen kann. Stets weiß sie die Möchtegern-Al Capones und – Hitlers in uns zu umgarnen. Brechts Historienfarce, die Hitlers mörderische Karriere in Al Capone’s Gangstermilieu kolportiert, geht ein ins heutige Politik-Panoptikum, das ebenfalls nicht wegzuleugnen ist.
Nicht von ungefähr wird das italienische Volkslied “Madonna Mia”, von Al Capone transkribiert als dieser das erste Mal im Gefängnis saß, zum Motiv von Roma und seiner Gang. Immer wieder mischen sich die Gesänge Hans Dieter Hosallas mit Liedern und Musik der amerikanischen Dreißiger Jahre. Der Inszenierung ist jedes erzählerische, theatralische Mittel recht, um die Mechanismen und Verlockungen der alltäglichen Gehirnwäsche ins Spiel zu bringen. Im Finale wird der Zuschauerraum zur Bühne, zur allbekannten politischen convention hall, in der sich das Wahlvolk von Chicago und Cicero einfindet und sich schließlich wider besseres Wissen dem Führer ergibt. Wenn Ui und seine Kohorte schließlich die rechte Stimmung geschaffen haben und alle – Figuren wie Zuschauer – „in einem Boot sitzen“, will sich kaum jemand der Anwesenden dem römischen Gruß und dem Absingen von Michael Jacksons “It’s a Better World” entziehen. Flaggen, Luftballons und Fähnchen mit dem Ui-Logo – das erinnert nicht nur an deutsches Grauen, die zwanghaften Aufmärsche, das Blut des Totalitarismus, das ist die ergreifende Theatralisierung einer Volksgemeinschaft, die auch hierzulande nicht fremd ist.