Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 3. September 2007, Heft 18

Angeeignete Voraussetzungen

von Erhard Crome

Im Sommerloch irrlichtern in der Regel solche Nachrichten, die sonst nicht so sehr auffallen, und jene Politiker, die zumeist nur noch unter der Rubrik: Was macht eigentlich … auftauchen. Zuweilen jedoch kulminieren Einzelmeldungen zu Verknüpfungen, und plötzlich scheinen Zusammenhänge auf, die auf Probleme verweisen.
In diesem Sommer gehörten dazu Geiselentführungen und -morde in Afghanistan, das Abbrennen der Wälder auf den Kanarischen Inseln und die Frage, ob es denn nun einen Streik der Lokführer in Deutschland geben wird oder nicht. Scheinbar hat alles das nichts miteinander zu tun. Die Verknüpfung, die sich herstellt, aber ist die: Es gibt jeweils ein moralisches Ungleichgewicht oder, mit anderen Worten, eine Seite versucht, ihre Interessen durchzusetzen, indem sie ein moralisches Handeln der anderen Seite voraussetzt oder erwartet.
Beginnen wir mit den Geiselentführungen. Hier will ich jetzt nicht die Frage stellen, wie verarmt oder hoffnungslos einer sein muß, um ausgerechnet in Afghanistan das Geld zu verdienen, das ihm hier in Deutschland fehlt. Oder was denn ausgerechnet in Afghanistan, wo doch alle wissen, wie der »Dschihad« wirkungsmächtig gemacht wurde (siehe: Mahmood Mamdani: Guter Moslem, böser Moslem. Amerika und die Wurzeln des Terrors, in: Das Blättchen, 26/2006), eine größere Gruppe evangelikaler Wanderprediger aus Südkorea macht. Die Entführer, die in der Großpresse den Taliban zugerechnet wurden, aber vielleicht nur Gruppen der in den Jahrzehnten des Bürgerkrieges geschaffenen »Militärunternehmer« in der afghanischen Provinz sind, die vom Kriege gezeugt wurden, um vom Kriege zu leben, haben deutsche Bauingenieure und koreanische Prediger entführt. Um ihre Drohung wahrzumachen, haben sie Geiseln getötet und erwarten, daß die andere Seite, der Westen, nachgeben und Lösegeld bezahlen werde. Wieso erwarten die das eigentlich? Der Westen hat ohne Skrupel die sogenannten Freiheitskämpfer in Afghanistan aufgerüstet und ideologisch abrichten lassen, um der Sowjetunion ihre strategische Niederlage zu bereiten. Dann hat er der Errichtung der Taliban-Herrschaft zugeschaut und schließlich, als ihm das nach dem 11. September 2001 in den Kram paßte, seinerseits in Afghanistan Krieg angefangen, der noch heute anhält. Die zivilen Opfer der westlichen Kriegsführung wurden jüngst selbst von dem durch den Westen eingesetzten Präsidenten Karsai angeprangert. Warum soll dieser Westen eigentlich die Geiseln auslösen? Glauben die Entführer in der Tat, dessen politische Führer würden mit ihren »eigenen Leuten« mehr Mitleid haben als mit den »Kollateral«-Opfern in den afghanischen Dörfern?
Dann brannten die Pinienwälder auf den Kanarischen Inseln ab. Von einer einzigartigen Umweltkatastrophe ist die Rede. Zwischenzeitlich wurde ein Forstarbeiter ausfindig gemacht, der gestanden hat, den ersten Brand gelegt zu haben. Sein Zeitvertrag endete nach dem Sommer. Hatte er den Brand gelegt, weil er bei den anschließenden Aufräumungsarbeiten auf Weiterbeschäftigung hoffte? Oder aus Frustration oder um auf seine Lage aufmerksam zu machen? Dazu hätte es sicherlich andere Möglichkeiten gegeben. Aber vielleicht hatte er keine anderen gesehen, aus Gründen, die mit seiner Sozialisation, seiner Bildung, seiner Lage zusammenhängen. Das kann man alles verurteilen. Dennoch bleibt das moralische Problem übrig: Der Besitzer des Waldes, die Gemeinde oder wer auch immer der »Arbeitgeber« war, geht davon aus, daß er das Recht hat, den Forstarbeiter nach Hause zu schicken, unabhängig davon, ob dieser eine andere Arbeit finden kann, von der zu leben er in der Lage ist, und unabhängig davon, ob er eine Familie hat und Kinder, die ernährt werden müssen. Der Herr über das Arbeitsverhältnis setzt voraus, daß der hinausgeworfene Knecht sein Schicksal akzeptiert; er setzt bei jenem eine Moral voraus, die er selbst nicht hat.
Nun zu den streikwilligen Lokführern in Deutschland. Gewerkschaftsnahe Aktivisten machen auf Ungereimtheiten aufmerksam: Zunächst wurde die Gewerkschaft der Lokführer gegenüber all den anderen Beschäftigten der Bahn als ein elitärer Verein denunziert, der dazu neige, einseitig seine Sonderinteressen wahrzunehmen, ohne auf die Lage der anderen Berufsgruppen zu schauen. Außerdem wurde ins Feld geführt, daß dieselbe Gewerkschaft der Deutschen Bahn gegenüber Forderungen geltend mache, die sie gegenüber den Privatbahnen, die mit DB konkurrieren, nicht in Ansatz bringt. Damit wirke sie objektiv zugunsten der Konkurrenten der DB, auch wenn sie dies nach außen hin verneint.
Inzwischen hat ein Arbeitsgericht festzustellen gewußt, ein Streik der Lokführer müsse illegal sein, weil wegen deren zentraler Rolle im Eisenbahnverkehr die »Arbeitgeber« keine Möglichkeiten der Gegenreaktion in Gestalt von Aussperrungen und Entlassungen hätten.
Wann in der ganzen Geschichte des Neoliberalismus seit den achtziger Jahren hat je ein Gericht die verminderte Sanktionsmacht der Gewerkschaften und der »Arbeitnehmer« moniert? Es war das Wesen des entfesselten Kapitalismus, die Sanktionsmacht der Arbeiter zu zerstören. Der Arbeitskampf der Telekom-Beschäftigten scheiterte, weil die Mitarbeiter der konkurrierenden Firmen – in Berlin etwa Versatel – sagten: Was wollen die eigentlich? Wenn die Telekom Millionen Kunden verliert, können die doch nicht ihre Standards aufrechterhalten! Hier hatte die »Deregulierung« der EU genau das bewirkt, was sie sollte: die Zerstörung der Kampffähigkeit der Arbeiter.
Nach den Jahrzehnten des Neoliberalismus gibt es nur noch ganz wenige Berufsgruppen, die ernsthaft Arbeitskämpfe austragen können. Dazu gehören ganz gewiß noch die Müllfahrer, die Ärzte – was wir kürzlich sehen konnten – und eben auch (noch) die Lokführer. Insofern ist der zu erwartende oder nicht zu erwartende Streik der Lokführer mehr als nur eine Sonderaktion von angeblich ohnehin Bevorzugten. Michael Moore hat in seinem bekannten Buch über die Eigenheiten der Bush-Ära (Stupid White Men) auf eine Besonderheit des neoliberalen Kapitalismus verwiesen: die Unterbezahlung verantwortlicher Arbeit. Ein Flugkapitän in den USA erhält im ersten Jahr seiner Anstellung 13000 US-Dollar brutto im Jahr. Nach dem Abzug der Kosten für Flugtraining (die er selber bezahlen muß) und für die Uniform bleiben 9000 US-Dollar im Jahr. Das ist unter dem Sozialhilfesatz. Allerdings verboten die entsprechenden Fluggesellschaften den Piloten, Lebensmittelmarken und Sozialhilfe zu beantragen. Moores Folgerung lautete: »Laß dich nie von jemandem durch die Luft fliegen, der weniger verdient als der Kellner bei McDonald’s.« Und weiter: »Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich möchte, daß die Leute, die mit mir abheben und der mächtigsten Naturkraft – der Schwerkraft – trotzen, glückliche, zufriedene, zuversichtliche und gutbezahlte Menschen sind … Wenn ich 10000 Meter über dem Erdboden bin, will ich nicht, daß die Piloten oder Flugbegleiterinnen darüber nachsinnen, wie sie Strom und Wasser wieder angestellt kriegen, wenn sie abends nach Hause kommen, oder wen sie ausrauben müssen, um ihre Miete bezahlen zu können.«
Das gilt nicht nur für Piloten, sondern eben auch für Lokführer. Der Kapitaleigner geht davon aus, daß der Prolet das Eigentumsrecht akzeptiert und still nach Hause geht, wenn er entlassen wird. Das eben ist das moralische Ungleichgewicht. Im Verzweifelungsfall steckt er den Wald an oder versucht die Geiselnahme oder den Streik. Jedenfalls kann die Kapitalverwertung nicht davon ausgehen, daß sie ungeschoren aus dem Klassenkampf hervorgeht.