von Wladislaw Hedeler
Und heute, wenn ich das niederschreibe, ist das nicht einmal mehr vergessen, man weiß es gar nicht mehr.« So enden viele Geschichten, auch die mit Kaninchen überschriebene von Frantisˇek Listopad. Die vier Linolschnitte stammen von Zoppe Voskuhl.
Daß Leo Trotzki, von dem die Erzählung handelt, im Jahr des Hasen das Licht der Welt erblickte, mag ein Zufall sein. Glück hat es ihm – entgegen den Prophezeiungen der chinesischen Weisen, die die Tierkreiszeichen zu deuten suchen – nicht gebracht. Ein Hasenfuß aus Georgien gab den Befehl, den Kaninchenzüchter mit einem Eispickel ins Jenseits zu befördern.
Später, als das tatsächliche Geburtsdatum des mordlustigen Schuhmachersohnes bekannt wurde, stellte sich heraus, daß sein Zeichen nicht das des Hasen, sondern das des Tigers war. Der gedungene Mörder, 1958 aus der Haft entlassen und über Kuba in die Tschechoslowakei ausgeflogen, durfte den Lenin-Orden behalten.
Bekanntlich treffen Tiger und Löwen selten aufeinander. Trotzki, ty ne prav, ty Lev. Dieses Wortspiel wird dem »Vater der Völker« zugeschrieben. Was die wörtliche Übersetzung: »Trotzki, du hast nicht recht, du bist ein Löwe«, nicht wiedergibt ist: »Du bist kein Rechter (ty ne prav), du bist ein Linker (ty lev[yj]).« Aber weder für die einen noch für die anderen Abweichler war im dahinjagenden Parteizug, den der Lokomotivführer der Weltgeschichte steuerte, Platz.
Wer Gelegenheit hat, nach Mexiko zu reisen, kann sich den Ort des Geschehens, an dem die Erzählung spielt, unweit von Frida Kahlos und Diego Rivieras Wohnhaus, ansehen. Die Kaninchenställe auf dem Hof des zur Festung ausgebauten Anwesens sind zu besichtigen. Täglich, immer nach dem Frühstück, ging der »verstoßene Prophet« hinaus, um die Tiere zu füttern. Wo einst Hühner scharrten, steht heute ein Grabstein mit einem roten Stern.
»Nadeshda legt die Tschaikowskyplatte auf und öffnet das Fenster zum Hof.« So beginnt die Geschichte. In den Karnickelbuchten wird es lebendig. Lunatscharski, Aron und die Prinzessin warten auf das Großväterchen, das ihnen eine Möhre oder einen Kohlstrunk bringt.
Als die Namensgeber noch lebten, saßen sie oft in der kriegsbedingt traurigen Stadt an der Seine zusammen und redeten über ihre Revolution, die sich dann – zur Freude von Leo an seinem Geburtstag – ereignete. Vielleicht dachte er in Anbetracht der Langohren auf seinem Hof in Mexiko an das »Lapin Agile«, ein nach dem eiligen Hasen benanntes Café im Montmartre-Viertel. Hier hatte er sich oft mit Lunatscharski und Martov getroffen. Beide waren schon lange tot. Besorgt über seinen eigenen Gesundheitszustand, schrieb er im Februar 1940 sein Testament. Es endet so, wie die Geschichte beginnt: »Natascha hat das Fenster zur Hofseite noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.«
Frantisek Listopad: Kaninchen, aus dem Tschechischen übersetzt von Eduard Schreiber, mit Linolschnitten von Zoppe Voskuhl, Corvinus Presse, Berlin 2007, 10 Euro
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