Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 20. August 2007, Heft 17

Der große und der kleine Terror

von Heinz Jakubowski

Um zwei Bücher soll es gehen, ein noch neues und eines mit bereits reichlich sechzig Jahren auf dem Buckel. Zu beginnen ist mit dem aktuellen Band, zumal er der Anlaß für den Rückgriff auf den zweiten ist. Sänger und Souffleur zeichnet mit einer Reihe von Texten ein Bild des Barden Wolf Biermann und des Physikers und späteren Dissidenten Robert Havemann, »das der historischen Wahrheit näher kommt als alle Selbstdarstellungen, Jubelgesänge und verklärenden Dichtungen« (Klappentext).
Nun geht es mir gar nicht darum, inwieweit die Autoren diesem selbstbewußten Anspruch gerecht geworden sind. Wolf Biermanns Lieder, sofern in der DDR überhaupt zugänglich, habe ich großen Teils geschätzt, die Person selbst hat bei mir wenig Sympathie freigesetzt; daran hat sich nichts geändert. Robert Havemann war mir DDR-zeitlich eine eher mystische Figur, von der und ihrem dissidentischen Denken man wenig Authentisches zu Gesicht bekam.
Da mir der Glaube an Heilige irgendeiner Provenienz eh abhanden gekommen ist, geht es mir keineswegs um die Verteidigung der Protagonisten im Detail. Bemerkenswert vielmehr ist die gleich im ersten Text des Buches quasi allem vorangestellte Kernthese von Robert Allertz, der auch der Herausgeber dieses Bandes ist. »Unterstellt, daß die ›inneren Kritiker‹ der sozialistischen Gesellschaft tatsächlich deren Fortschritt und nicht ihre Beseitigung wollten: Objektiv arbeiteten sie damit der Gegenseite zu. Absicht und Resultat ihres Engagements gingen auch hier auseinander«, schreibt er in apodiktischer Verallgemeinerung. »Das ist die wohlmeinende Interpretation, die Naivität vor den Vorsatz stellt.« Wer den Sozialismus also – mit dem Ziel ihn zu stärken!, wie Allertz dies immerhin für möglich hält – kritisiert, arbeitet de facto für den Feind und ist objektiv also selbst ein solcher. Tut er das »unbewußt«, ist er bestenfalls naiv, Intelligenz und Lauterkeit als mögliche Hintergründe scheiden a priori aus.
Chapeau! – 70 Jahre nach jener wohl übelsten der berüchtigten Prozeßwellen in der Sowjetunion gegen »Volksfeinde und Schädlinge«, die genau nach dieser Dialektik zu Millionen »entlarvt«, deportiert, in Lager entsorgt oder hingerichtet wurden, ist dies eine Feststellung von beachtlicher Ignoranz gegenüber dem, woran der Sozialismus nicht nur, aber eben auch gescheitert ist: am Ausbleiben der berühmten Befreiung des einzelnen als Voraussetzung für die Befreiung aller. Eine Befreiung, die, wenn sie materielle Gewalt werden soll, nicht nur das eigene Denken im Rahmen von ideellen Obrigkeitsvorgaben zuläßt, sondern dieses zur notwendigen Voraussetzung macht für jenes Gemeinschaftswerk, das da Sozialismus heißt. Soviel könnte einem Zeitgenossen, der das Desaster des Realsozialismus mit seinem großen und »kleinen« repressiven Terror miterlebt hat, heute eigentlich klar sein, und zwar ohne per Marx (»An allem ist zu zweifeln«) oder Luxemburg (»Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden«) dafür gleich wieder Autoritätsbeweise zu benötigen.
»Das Unendliche war eine politisch verdächtige Quantität; das Ich eine verdächtige Qualität. Die Partei anerkannte seine Existenz nicht. Die Definition des Individuums lautete: eine Masse von einer Million, dividiert durch eine Million. Die Partei leugnete den freien Willen des Individuums – und forderte gleichzeitig seine freiwillige Hingabe. Sie leugnete seine Fähigkeit, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen – und forderte gleichzeitig, daß es ständig die richtige Wahl treffe. Sie leugnete sein Vermögen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden – und sprach gleichzeitig in pathetischen Tönen von Schuld und Verrat.« Dieses Zitat wiederum ist aus einem Buch, das bereits 1940 in England erschien. Sein Autor, Arthur Koestler, hatte zu jener Zeit nicht zuletzt durch seine Erfahrungen mit und in der Sowjetunion mit dem Kommunismus, dem er sich einst in freiwilliger Begeisterung zugewandt hatte, gebrochen. Das, was sein Roman Sonnenfinsternis über die inquisitorische Transformierung von Revolutionären durch den Geheimdienstapparat zu »Volksverrätern« beschreibt, wollten seinerzeit die ehemaligen deutschen Genossen im Exil nicht wahrhaben.
Jene, die es in der UdSSR selbst erlebten, schwiegen darüber, zum Teil bis ins Grab. Auch Robert Havemann, der es 1945 zu lesen bekam, hielt es übrigens für pure klassenfeindliche Propaganda. Unter den nicht weniger als nach Millionen zu zählenden Opfern dürfte die Zahl derjenigen, die – wenn überhaupt – nichts anderes getan hatten, als per »innerer Kritik« einen anderen als den blutrünstig-diktatorischen Stalinismus zu wollen, deutlich überwogen haben.
In einem der vielen Verhöre des tragischen Helden der Sonnenfinsternis, des ehemaligen Volkskommissars Rubaschow, spricht sein Vernehmer Gledkin »sozialistischen« Klartext: »Daher die absolute Notwendigkeit für die Partei, geeinigt dazustehen. Sie muß aus einem Guß sein, ein einziger Block, gefüllt mit blinder Disziplin und absolutem Vertrauen. Sie und Ihre Freunde, Bürger Rubaschow, haben einen Riß im Körper der Partei verursacht. Wenn Ihre Reue echt ist, dann müssen Sie uns helfen, diesen Riß zu heilen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß dies der letzte Dienst ist, den die Partei von Ihnen verlangt.
Ihre Aufgabe ist einfach. Sie haben sie sich selbst gesetzt: das Richtige zu vergolden, das Falsche anzuschwärzen. Das Falsche: das ist die Politik der Opposition. Ihre Aufgabe ist daher, die Opposition verächtlich zu machen; den Massen vor Augen zu führen, daß Opposition ein Verbrechen und jeder Oppositionelle ein Verbrecher ist.«
Rubaschow, eigentlich fassungslos ob der Beschuldigungen gegen ihn, selbigen intellektuell absolut gewachsen und über das ideologische Procedere seiner eigenen Partei völlig im Bilde, erliegt deren ideologischer Dialektik, daß es um die Menschheit geht und nicht um den Menschen – und gesteht. Nicht aber, ohne kurz vor seiner Hinrichtung über eine Hoffnung in die Zukunft zu sinnieren: »Vielleicht werden die Mitglieder der neuen Partei Mönchskutten tragen, und ihre Lehre wird sein, daß nur die Reinheit der Mittel das Ziel heiligt. Vielleicht werden sie lehren, daß das Prinzip falsch ist, das besagt, der Mensch sei der Quotient aus einer Million dividiert durch eine Million, und statt dessen eine neue Art von Arithmetik einführen, die auf Multiplikation beruht: aus der Verschmelzung von einer Million Individuen zu einer neuen Einheit, die, nicht länger eine amorphe Masse, ihr eigenes Bewußtsein, eine neue Persönlichkeit entwickeln wird, mit einem millionenfach verstärkten ›ozeanischem Gefühl‹ in dem unbegrenzten und dennoch endlichen Raum.«
Da hat wohl angesichts des Todes bei Rubaschow nur jene blanke »Naivität« obwaltet, die Robert Allertz als einzig »wohlmeinende Interpretation« für möglich hält.

Robert Allertz: Sänger und Souffleur. Biermann, Havemann und die DDR, edition ost Berlin, 224 Seiten, 12,90 Euro; Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, Rotbuch Verlag Hamburg, 272 Seiten, 12,90 Euro