von Jörn Schütrumpf
Die Linke sei nationalistisch, tönt es ständig; so soll sie in der Defensive gehalten werden. Seit fast 150 Jahren geht es in der nationalen Frage wie in der Geschichte vom Hasen und vom Igel zu. Immer aufs Neue rufen die Jünger der bestehenden Ausplünderungsverhältnisse: Wir sind schon da.
Selbst ein Kopf wie Lenin entschuldigte sich in seinem Testament bei der Arbeiterklasse, daß er es verabsäumt habe, die nationale Frage zu lösen. Welche Frage er überhaupt – nicht nur scheinbar – gelöst hat, soll hier nicht diskutiert werden. Die nationale Frage jedenfalls hätte auch er nicht zu lösen vermocht, denn sie stellt sich stets neu. Die Nation, zumeist ein Unterdrückungsverhältnis zwischen einer Mehrheitsbevölkerung und einer oder mehreren Minderheiten, ist eine Entwicklungsform, mit der postfeudale Klassengesellschaften zusammengehalten werden.
Entsprechend pragmatisch geht es zu. Nachdem Bismarck durch seine »Revolution von oben« den Revolutionären von 1848 die nationale Frage abgekauft hatte, durften die Kräfte, die in Deutschland bis heute einen Klassenkampf von oben gegen eine nie wirklich mündig gewordene Gesellschaft führen, die Linke mit der nationalen Peitsche vor sich hertreiben.
Die vaterlandslosen Gesellen der großen Kapitale schoben, als die sozialdemokratische Linke sich international organisierte – also in der Zeit der II. Internationale zwischen 1890 und 1914 – den schwarzen Peter des vaterlandslosen Gesellen der Linken zu. Und es funktionierte: 1914 zeigte sich die Linke mehrheitlich national und schickte ihre proletarischen Anhänger als Dünger auf die Schlachtfelder. Nur jene Minderheit, die dem internationalistischen Gedanken treu blieb, gründete 1919 in Moskau die Komintern, die jedoch schnell zum Spielball innersowjetischer Machtkämpfe verkam und 1938 zusammen mit vielen ihrer Protagonisten den Todesstoß erhielt. Ihre offizielle Beisetzung fand 1943 statt.
Nach dem Ersten Weltkrieg agierten in Deutschland bis auf die ganz wenigen Köpfe, die nicht den Kopf verloren hatten, fast alle politischen Kräfte national. Selbst die Parteikommunisten probierten sich zweimal in diesem Fach aus: 1923 und 1930. Als Ende der zwanziger Jahre die im Bismarck-Reich geformten Eliten ihre Massenbasis verloren, verbanden sie sich mit der nationalsozialistischen Bewegung, die die alten und die neuen Mittelschichten als politische Basis von ihnen geerbt hatte. Die nationale Frage wurde nun mit einer rassistischen Komponente aufgeladen.
Als das schiefging, schien es mit diesen Eliten zu Ende zu gehen. Doch in Nürnberg wurden ihren Repräsentanten freigesprochen. Die Nazis henkte man – zu recht, die Großen ließ man laufen. So erhielten sie die Chance, sich zu »modernisieren«. Sie wurden Europäer – und der Kommunist Ulbricht machte plötzlich in Nation. (Über die Axen-Honeckersche sondernationale Entwicklung wollen wir an dieser Stelle den Mantel pietätvoller Nachsicht breiten.)
Heute haben wir die spiegelverkehrte Situation zu 1914. Die Linke verteidigt die Reste der sozialen Standards, die im Kalten Krieg von den »modernisierten« Eliten aus antibolschewistischer Revolutionsfurcht zugestanden worden waren – während die Ausplünderer vorgeben, via »Globalisierung« auf die internationalistische Seite gewechselt zu sein.
Der Kern der Nationalismusdenunziationen gegenüber der Linken – der frankophile Lafontaine plötzlich als deutscher Obernationalist – findet sich hier: Jeder Widerstand gegen den Versuch, in Deutschland ein Ausplünderungsniveau einzuführen, wie es im kommunistischen China gang und gäbe ist, gilt als nationalistisch. Die nationale Frage stellt sich also erneut. Scheitert die Linke an ihr abermals?
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