von Wolfram Adolphi
Es verläßt uns – hat Mario Keßler kürzlich in einem Nachruf auf Rudolf Arnheim im Blättchen geschrieben – die Generation der 1933 aus Deutschland vertriebenen Linksintellektuellen. Es verläßt uns die Generation derer, die bereits vor 1933 gegen den Faschismus aufgestanden sind, überhaupt. Auch Gerda ist nun gegangen, fast 95jährig. Mitglied des legendären Roten Sprachrohrs ist sie gewesen, der von Maxim Vallentin 1928 gegründeten Agit-Prop-Gruppe, und fliehen hat sie müssen vor den Nazis erst nach Prag und später nach London. 1947 ist sie von dort nach Deutschland zurückgekehrt, in den Osten. Kommunistin, die sie war, wollte sie mittun am Neuen, Unerprobten, aber die Arbeit im Parteiapparat, die man ihr übertrug, war ihre Sache nicht. Ich habe sie erst kennengelernt, da war sie schon über 80, aber bei allem, was sie sagte – und wie sie es sagte – wurde mir klar, daß sie nie und nimmer hätte gut gehen können, die Verbindung zwischen frag- und klagloser Parteipflichterfüllung und ihr. Zu eigenständig, zu kratzbürstig, zu prall gefüllt war sie mit Emigrationserfahrung und Überlebenskunst, mit trotziger Selbstbehauptung und dem Atem einer anderen Welt.
Sie wurde zuständig für die Kinder- und Jugendfilmdramaturgie bei der DEFA, dann arbeitete sie bei Radio Berlin International – und hat von all dem später nie viel Aufhebens gemacht. Wie von ihrem ganzen Leben überhaupt. In den letzten zwölf ihrer fast 95 Lebensjahre haben wir uns monatlich gesehen, haben stundenlang erzählt, diskutiert, uns gestritten und wieder versöhnt, und nie hat sie sich darauf eingelassen, ein Gesamtbild ihres Lebens zu geben. Episoden hat sie erzählt – mal diese, mal jene. Prag spielte dabei eine große Rolle: die Jugend, die zwangsläufig geprägt sein mußte für die Emigrantin von ständiger Wachsamkeit, Mißtrauen, gründlichster Prüfung des Gegenübers. Wie viele Fallen sind da gestellt worden, wie schnell konnte ein winziges Detail der eigenen Biographie, preisgegeben im Überschwang, in Verrat, Verhaftung und Tod enden. Das bleibt nicht ohne Spuren auch in folgender Zeit. Was freilich auch für das Gegenteil gilt: für die Freundschaften, die in solchen Jahren entstanden sind. Es kam ein wunderbarer Glanz in ihre Augen, wenn sie von Lenka Reinerová sprach, der großen deutschsprachigen tschechischen Dichterin, mit der sie verbunden war bis zuletzt.
Gerda, die kleine, schlanke Frau, war emanzipiert auf eine Weise, die sich allen adretten Geläufigkeiten entzieht. Daß sie aus einer aus Galizien nach Berlin gekommenen jüdischen Familie stammte, war für sie nichts, das herauszustellen war, denn sie hatte ja keinen Anteil daran. Kommunistin war sie geworden aus Eigenem, und Kommunistin ist sie geblieben, und darüber hat sie gesprochen. In London, in der Emigration, hat sie den Mut zu einem Kind gehabt, der Vater ein General der internationalen Spanien-Brigaden. In die Sowjetische Besatzungszone kam sie mit dem Mädchen allein. Beim Deutschlandtreffen der Jugend 1950 in Berlin fand sie – schon achtunddreißigjährig – die Liebe, die nahezu fünfzig Jahre halten sollte. Als der Gefährte seiner unzeitigen sozialistischen Überzeugungen wegen in tiefste Krisen geriet, zog sie ihn resolut aus dem Sumpf.
Ihre letzten Lebensjahre hat sie in einem goldenen Käfig verbracht. Ja, gut sieht es aus, das Pflegeheim – aber wie knapp nur ist die tägliche Pflegezeit bemessen, und vor allem: Da ist keine Zeit mehr gestattet für nur das kleinste Gespräch über die Minuten der körperlichen Pflege hinaus. Keine Zeit zum Reden – mit soviel Erinnerung im Kopf und mit soviel Teilnahme an allem, was im Leben da draußen politisch geschieht!
Es ist schwer, sehr schwer, unter solchen Bedingungen so alt zu werden. Die Genossinnen und Genossen, die ihre Erfahrungen, ihr Gewordensein verstehen konnten und sie kannten mit ihrer Lust am Widerspruch und ihrer Direktheit in Standpunkt und Forderung – alle schon nicht mehr da. Und kein Geld dafür da, ein Personal auszubilden und einzustellen, daß für die Pflege der Seelen da ist, für die Pflege der Erinnerung – und für die Akzeptanz, ach was: Hochschätzung dessen, daß Menschen wie Gerda, körperlich gebrechlich, aber geistig leistungsfähig und präsent, ein Recht darauf haben, mit ihren Auffassungen widerständig und herausfordernd zu bleiben bis zum letzten Tag.
Gerda ist gegangen. In aller Stille.
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