Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 10. Juli 2007, Heft 14

Der blaue Stern

von Walter Thomas Heyn

Klimakatastrophe, Verwahrlosung der Jugend, Krise der Kultur, ja ja ja ja ja, das hören wir jeden Tag. In einer Schule prügeln sich Kinder krankenhausreif und filmen dabei munter mit dem Handy mit, eine kleine Musikschule schließt, einem Kiez-Projekt geht die Luft aus. Das kennen wir doch alles bis zum Abwinken. In Leipzig wird der belgische Opernhausintendant rausgeworfen, weil der italienische Dirigent ihn nicht leiden kann. Das Gehalt von 600000 Euro wird natürlich fünf Jahre weitergezahlt. Da nickt der mündige Zeitgenosse müde ab, denn er erwartet nichts anderes. In Halberstadt werden fünf Schauspieler von einer stadtbekannten rechten Gang zusammengehauen, weil einer der Schauspieler als »links« erkannt wurde. Die nach endlosen Minuten erscheinenden Polizisten verlangen von den blutenden Opfern, die am Boden liegen, zunächst erst mal den Personalausweis, denn Ordnung muß sein. Die Täter brauchen nicht weglaufen. Sie können der Amtshandlung in Ruhe und am Tatort zusehen. Man kennt sich vermutlich.
Anläßlich der Beendigung der deutschen Ratspräsidentschaft veranstaltete Herr Außenminister Steinmeier am 17. Juni ein Konzert im Konzerthaus. Leider ist er selbst verhindert gewesen; er mußte sich mit der polnischen Quadratwurzel in Luxemburg beschäftigen. Kurz vorher hatte jemand den Polen geraten, aus Europa auszutreten. Das ist dann schon keine Eulenspiegelei mehr, sondern etwas für den Hohlspiegel. Die große Freitreppe jedenfalls war mit einem blauen Teppich mit allen 27 Europasternen garniert, oben gab es VIP-Material, genauer gesagt, ein Poster mit Kinderzeichungen und ein paar Postkarten, sponsered by Vattenfall.
Es gab aber gute Gründe, auf die Berliner stolz zu sein: Alles was Musik und Kultur war, nahmen sie freundlich und unaufgeregt auf; alles, was Politik oder Repräsentanz war, ignorierten sie nicht weniger freundlich. Vor den Fenstern des Konzerthauses liegen in Form von Rasenstücken Wörter aus. »Bulette« kann ich lesen, und weitere französische Vokabeln, die ins Deutsche Eingang gefunden haben. Drinnen gab es neben allerlei schauerlichen und kitschigen Uraufführungen eine Art szenische Hommage an die 27 Mitgliedsstaaten zu sehen und zu hören: Also in 27 Sprachen wurde gesungen, rezitiert, diskutiert – und das pausenlos eine Stunde lang von allen Ecken des Saales.
Kein Wunder, daß Europa so ist, wie es ist. Man kann sich einfach nicht verstehen. Unangenehme Erinnerungen kamen auch noch in mir hoch: Die Sowjetunion als riesiges Fußbodenrelief, und auf jeder Republik und autonomen Zone standen in folkloristischer Nationaltracht Gruppen von Tänzern. Auch Ceausescu liebte diese Art Geographie-Folklore. In der irakischen Stadt Basra war das Stadion statt mit Rasen ebenfalls mit solch einem Relief geschmückt. Kuweit war da als 18. Provinz mit drauf. Jetzt ist Basra vom Erdboden verschwunden.
Das Finale des Konzertes bestand aus der Ouvertüre zu Richard Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg. »Hitlers Lieblingsstück« flüsterte neben mir ein Mitglied der finnischen Botschaft und irrte. Hitlers Lieblingsoper war der Ring des Nibelungen; er soll in den Pausen in seiner Loge Todesurteile unterzeichnet haben. Mit den Klängen der Meistersinger-Ouvertüre wurde 1961 die Leipziger Oper eröffnet. Die Ouvertüre war das Lieblingsstück des in Leipzig geborenen Walter Ulbricht, womit ein historischer Bezug zum Konzertdatum und ein aktueller zum Skandal in der Leipziger Oper hergestellt wäre.
Ein paar Tage vorher waren zwei Schläger freigesprochen worden, die einen schwarzen Mitbürger zusammengedroschen hatten – die Beweislage ließ ein eindeutiges Urteil nicht zu. Pech für den Nigger. Wäre er gestorben, hätte man sich den Prozeß gleich ganz sparen können. »Ja, liebe Pankower Mitbürger, da schaut ihr aus dem Fenster und guckt zu, was hier abgeht. Kommt heraus, schließt Euch an«, erklang es aus dem Antifa-Lautsprecherwagen, der inmitten einer linken Demo neulich durch die Grabbeallee fuhr. Die Linken protestierten gegen Nazi-Kneipen; ein paar davon hatten sie vorher gleich selber abgefackelt. Dann werden Lieder von Ernst Busch gespielt. Wenn die Rechten durch die Grabbeallee laufen, sind ganz viele linke Gegendemonstranten da, und es werden Lieder wie »Da sind wir aber immer noch« gespielt. War das nicht ein FDJ-Lied? Auf der website der FDJ gibt es eine neue Textvariante: Da sind wir aber immer noch, / doch der Staat ist nicht mehr da, / den die Arbeiter erbaut, / das Land, es lebt, es lebt erst dann, / wenn das Volk sich wieder traut.
Das Volk, insbesondere das Jungvolk, traut sich offenbar einiges. Jedenfalls war zum G8-Gipfel etliches von dieser Traute zu sehen. Nur dumm, daß in den grellen Blitzlichtgewittern Freund und Feind kaum auseinander zu halten sind. Wer steht da eigentlich wofür, und wohin, bitteschön, soll die Reise gehen?