Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 25. Juni 2007, Heft 13

Revolution

von Erhard Crome

Die russischen Revolutionen liegen nun neunzig Jahre zurück. Ihr Hauptergebnis war Sowjetrußland beziehungsweise die Sowjetunion, die eine der bewegenden Kräfte des 20. Jahrhunderts verkörperte. Das Scheitern dieses Realsozialismus verführte die Ideologen der obwaltenden Verhältnisse dazu, Revolution für alle Zeiten zu verdammen.
Andererseits gibt es in der jungen Generation Leute, die meinen, aus »Notwehr gegen den Kapitalismus« Steine werfen und Autos »abfackeln« zu sollen; einige Ältere sorgen sich, eine nächste Welle an den Verhältnissen verzweifelnder Bürgerkinder würde in eine neuerliche RAF-Logik des Terrors schlittern. So ist das Thema Revolution nicht erledigt.
Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, sonst gern als Schmuddelkind aus den ohnehin als fragwürdig denunzierten russischen Verhältnissen angesehen, wird aus Anlaß des bevorstehenden Oktoberrevolutionsjahrestages verschiedentlich zitiert; er hatte gemeint, das Reservoir an Revolutionen sei erschöpft. Ist er ein glaubwürdiger Zeuge, schon allein weil er aus Rußland, dem Land der Oktoberrevolution, stammt, und einer Partei vorsteht, die irgendwie auf die von Lenin begründete zurückgeht? Das unterstellt, wer dies zitiert.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich eher ein umgestülpter Stalinismus: Galt die Oktoberrevolution in der einstigen kommunistischen Partei- und Staatsideologie als das eigentliche Ereignis der Geschichte, als die wichtigste Wendung im Schicksal der Menschheitsgeschichte seit der Entdeckung des Feuers, so glaubt man heute, sie einfach als ein Nebenereignis und den Beginn eines Irrwegs abtun zu können. Was gestern angebetet wurde, wird heute verteufelt.
Im Grunde geht die Mystifizierung der Revolution auf Karl Marx zurück. Er hatte die Französische Revolution von 1789 genau studiert, ihre Ursachen, Verläufe und Ergebnisse, und war zu dem Schluß gekommen, daß die Ablösung des Kapitalismus durch den künftigen Kommunismus durch eine Revolution und mit revolutionärer Gewalt erfolgen müsse, so wie die Französische Revolution den Kapitalismus von den feudalen Fesseln befreit hatte. Selbst noch im Sommer 1917, nach dem Sturz des Zaren, hatten Lenin und die Bolschewiki, ehe sie die Macht ergriffen, diese Schriften nochmals sehr genau studiert und als Anleitung für ihr Handeln genommen. Später wurde diese Revolutionsidee in der Ideologie für sakrosankt erklärt, und die kommunistischen Parteien warteten allerorts auf die Revolution, die sie denn machen sollten.
Zugespitzt und prägnant hatte Marx dies in dem Satz zum Ausdruck gebracht, Revolutionen seien die »Lokomotiven der Geschichte«. Der Philosoph Walter Benjamin hatte eingewandt, daß das vielleicht ganz anders sei. »Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Schauen wir auf die russischen Verhältnisse und die Tatsache, daß der Sturz des Zaren im Februar 1917 die Hoffnungen auf das Ausscheiden Rußlands aus dem Gemetzel des Ersten Weltkrieges und der Bauern auf eigenen Grund und Boden nicht erfüllt hatte und das Morden in den Schützengräben den Sommer und Herbst über weiterging, so spricht vieles dafür, daß die Oktoberrevolution von den Menschen als Notbremse angesehen wurde, während die Bolschewiki wahrnahmen, nun auf der Lokomotive zu sitzen und den Zug dorthin bringen zu können, wo sie ihn hinhaben wollten.
Insofern bleibt zweierlei hervorzuheben: Erstens gab es große politische Revolutionen, die die Menschengeschichte vorangebracht haben, wie die Englische von 1642 und die Französische von 1789. Zweitens sind alle wirklichen Revolutionen nicht von selbsternannten Avantgarden gemacht worden, sondern sie entstanden, weil relevante Mehrheiten der jeweiligen Bevölkerungen die alte Macht satt hatten. Die Subjekte dieser Revolutionen, ihre Führer, Organisationen und Programme, bildeten sich in den Revolutionen selbst heraus. Das gilt unstreitig für die Englische und Französische Revolution, aber auch für die Äthiopische von 1974 und die Iranische von 1978/79; letztlich auch für die Russische von 1917: Im Februar war Lenin noch in der Schweiz und die Partei der Bolschewiki klein und illegal, im Oktober eine mächtige Kraft, weil die in der Zwischenzeit Regierenden die Forderungen der Mehrheit der Menschen nicht erfüllt hatten.
In diesem Sinne ist in der Tat die Vorstellung, es werde nie wieder Revolutionen geben, nur die Umkehrung der früheren, die Geschichte werde nur durch Revolutionen bewegt. Die »Geschichte ist offen« heißt hier, Revolutionen sind weder zu »machen« noch auszuschließen, weil sie stattfinden, wenn die Verhältnisse sie auf die Tagesordnung setzen. Insofern ist Gewalt, die während Revolutionen ausgeübt wird, weder zu verteufeln noch zu beschönigen. Wenn die Revolution die Notbremse ist und die Gewalt zunächst nur die Antwort auf die Gewalt der zuvor Mächtigen ist, sollten diejenigen, die gesellschaftliche Veränderung wollen, immer zuerst den friedlichen Weg des Veränderns anstreben, schon weil die großen Waffenarsenale immer im Zugriff der Mächtigen liegen, während die Kraft der Schwachen in ihrer Zahl und ihrer Moral liegt.
Der Friedensforscher Johan Galtung hat einst in die Analyse von Machtverhältnissen die Differenzierung zwischen direkter oder physischer Gewalt einerseits und struktureller sowie kultureller Gewalt andererseits eingeführt. Die Herrschenden haben immer am liebsten mit direkter Gewalt geherrscht. Die Schaffung von Verfassung und Rechtsstaatlichkeit wurden, beginnend in Europa, den Herrschenden in einem langen historischen Prozeß abgerungen. Dazu trugen im 19. und 20. Jahrhundert – um nur einige zu nennen – die sozialistische und Arbeiterbewegung, die Frauenbewegungen, die Bewegungen für nationale Gleichberechtigung und Unabhängigkeit, die für Bürgerrechte und Menschenrechte in erheblichem Maße bei.
Daß die Mächtigen und ihre Regierungen, zumal in den Ländern des Westens, heute große Schwierigkeiten haben, ihre direkte Gewalt zu legitimieren, sei es die ihrer Kriege in Jugoslawien, Irak und Afghanistan, sei es die ihrer Folterstätten und Gefängniskäfige, ist eine große historische Errungenschaft. Ihre strukturelle Gewalt muß durch Veränderung der Strukturen eingegrenzt und schließlich gebrochen werden, ihre kulturelle Gewalt durch eine andere, aber wiederum kulturelle Hegemonie.
Wer sich dazu versteht, die strukturelle Gewalt durch direkte Gewalt bekämpfen zu wollen, wird scheitern – wenn es nicht Zeiten der Revolution sind, siehe oben – oder, was noch schlimmer ist, liefert den Mächtigen und ihren Regierungen nur die Vorwände, ihre eingehegte Gewalt wieder freizusetzen. Wie das funktioniert, können wir an der Beschränkung der Bürger- und Freiheitsrechte seit dem 11. September 2001 sehr genau besichtigen.