Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Der letzte Bolschewik

von Jörn Schütrumpf

Mit dem Tode von Boris Jelzin ist einer der letzten hohen Repräsentanten der KPdSU ins Reich der Finsternis gefahren. Doch gerade viele seiner Freunde wie seiner Feinde mögen diesen Bezug zur KPdSU gar nicht.
Besonders ein gewisser Typus von Marxisten, der nur allzugern mit der sogenannten Wissenschaftlichkeit seines Weltverständnisses pranzt, vergißt beim Anblick einer Kreatur wie Jelzin nicht selten gerade seine »Wissenschaftlichkeit«. Plötzlich machen dann wieder Männer Geschichte, allen voran die »Verräter«. Denn wenn der »Verräter« nicht »verraten« hätte, wäre alles ganz anders gekommen …
Vergessen sind Basis und Überbau, vergessen die sonst so gern zitierten »Volksmassen als Schöpfer der Geschichte«. Vergessen, daß Menschen Geschichte unter vorgefundenen und nicht von ihnen frei zu wählenden Bedingungen machen – und jene am erfolgreichsten sind und mit ihrem Namen ins historische Gedächnis eingehen, die eine Entwicklung abkürzen, indem sie ihr zum Durchbruch verhelfen. Vergessen, daß der Spielraum meistens ganz gering ist und wer versucht, die Geschichte »zu zwingen«, als heftig belachter Tropf schnell vergessen wird. Es ist ein seltsamer Marxismus, der mit Marx nichts zu tun hat und für den der Alte wahrscheinlich nicht einmal ein müdes Lächeln übrig gehabt hätte.
≠Jelzin war die Konsequenz aus der auseinandergejagten Duma von 1918. Am Ende setzte der Bolschewik Jelzin, der noch 1977 als KPdSU-Stadtparteikomiteechef – auf Geheimbeschluß der Moskauer Parteiführung – in der Karl-Liebknecht-Straße von Jekaterinburg jenes Haus hatte schleifen lassen, in dem 1918 die Zarenfamilie ermordet worden war, die Duma wieder ein; er selbst ließ sich jetzt wie ein Zar beerdigen.
Mit der Oktoberrevolution 1917, die kein Umsturz, sondern ein Kind einer die gesamte Gesellschaft tief erschütternden Krise gewesen war, hatte die im Februar 1917 ausgebrochene Revolution ihren Zenit erreicht und war damit in ihre absteigende Phase eingetreten. Den Glauben, daß mit der »proletarischen Revolution« alles ganz anders als nach einer »bürgerlichen Revolution« werde, daß mit ihr ein »goldenes Tor« durchschritten und danach Gesellschaftentwicklung durch »Aufbau« ersetzt werde – daß also ausgerechnet diese Revolution keine absteigende Phase durchmachen müsse –, haben die Führer der Bolschewiki nie geteilt. Dazu waren sie zu gebildet. Revolutionen sind Geburtshelfer für die nächste Welle an Entwicklung; mehr nicht.
Auch für »gescheiterte Revolutionen« gilt das. Wer wenn nicht die Revolution von 1848 entband in deutschen Landen die bürgerliche Klassengesellschaft? Deren Staatlichkeit formte sich allerdings nicht zur demokratischen Republik, sondern zum militaristischen Obrigkeitsstaat samt Untertanengeist aus. Die »gescheiterte Revolution« von 1918 bescherte Deutschland dann zwar eine für ihre Zeit sehr demokratische Republik samt Frauenwahlrecht und Betriebsräten. Aber da diese Revolution wesentlich von einer schnell zerfallenden Soldatenbewegung getragen worden war, mangelte es dieser Republik an sozialer Verankerung. Das Ergebnis ist bekannt.
Die Bolschewiki zahlten für die Macht einen hohen Preis – nicht zu reden vom Preis, den sie die Gesellschaft zahlen ließen. Denn die absteigende Phase der Revolution konnten sie nicht verhindern; verhindern konnten sie nur – die jeder Revolution eigene – Fraktionsabfolge. Indem sie die unterbrachen, waren die Bolschewiki jedoch gezwungen, die jeweiligen Funktionen Schritt für Schritt selbst auszuüben. Von Lenin bis Jelzin folgten sie sich ständig »selbst nach«.
Mit der Niederschlagung des Kronstädter Auftstandes im Jahre 1921 entmachteten sie die Arbeiterschaft politisch – eine Entmachtung, die in Rußland bis zum heutigen Tage anhält.
Mit der Neuen Ökonomischen Politik begann die Suche nach einer neuen sozialen Basis. Anfänglich sollte es ein Staatskapitalismus werden. Doch die Herrschaft der Bolschewiki wurde in Wirklichkeit zum bonapartistischen Tanz über den Klassen. In Land und Stadt entfalteten sich die kapitalistische Produktionsweise und die von ihre geprägte Klassen- und Sozialstruktur prächtig. Es war nur ein Frage der Zeit, wann die neuen Reichen auf politischem Ausdruck gedrängt und der Herrschaft der Bolschewiki ein Ende gemacht hätte.
Dem kamen Stalin, Kaganowitsch und die anderen Exponenten der in den zwanziger Jahren entstandenen neuen politischen Klasse zuvor. Sie zerschlugen – beginnend mit der Kollektivierung, die keine Kollektivierung, sondern eine Versklavung war – die Gesellschaft Stück für Stück und ersetzten sie durch eine Militärgesellschaft. Terrorwelle um Terrorwelle überflutete das Land und riß Freund und Feind in den Tod.
Marx hatte einst einen Kasernensozialismus als Karikatur auf die Idee einer von Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Gesellschaft antizipiert und sich darüber lustig gemacht. An der russischen Variante war jedoch überhaupt nichts lustig. Daß der Hitlerfaschismus noch schlimmer wütete und an den Völkern der Sowjetunion – und keineswegs am »Organisator des Sieges« – scheiterte, machte sie nicht besser.
Nikita Chruschtschow – auch er ein blutbesudelter Massenmörder von Stalins Gnaden – hatte immerhin so viel Vernunft, die Entwicklung zurück ins alte Flußbett zu lenken; der russische Kasernensozialismus wandelte sich in eine staatskapitalistisch verfaßte Gesellschaft.
Am Ende warf die herrschende politische Klasse die staatliche Form des kapitalistischen Eigentums ab und privatisierte es. Boris Jelzin war kein Verräter, er war der Vollstrecker einer Entwicklung, die trotz allen Bluts und Terrors nicht hatte verhindert werden können. Jelzin machte den letzten Schritt der Oktoberrevolution, deren Exponenten geglaubt hatten, eine bessere Welt zu finden, und in Rußland doch nur eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hatten freisetzen können.