von Wladislaw Hedeler
Während der Arbeit an ihrer, dem Buch zugrundeliegenden Dissertation und den damit verbundenen Recherchen in Amsterdam, Wien, New York, St. Petersburg und Moskau hat Svetlana Jebrak (Jahrgang 1974) nicht nur das Material für die erste in deutscher Sprache vorgelegte, politische Biographie von Lydia Cederbaum, der Schwester des Mitbegründers der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR), Julius Martov, zusammengetragen, sondern auch eine annähernde Vorstellung davon gewinnen können, was Leben im Exil, ständiger Ortswechsel und nicht zuletzt die Hilfsbereitschaft – in ihrem Fall, die Unterstützung und der Rat von Kollegen und Archivaren – bedeuten. Auch mit Blick auf diese, ihre, Erfahrungen interpretiert sie das Exil weder als »eine typische Lebensform noch als pathologischen Zustand, sondern als Chance« (Seite 12). In fünf Teilen und elf Kapiteln zeichnet Svetlana Jebrak anhand der ihr zur Verfügung gestellten Archivalien – in der Regel handelt es sich um Briefe – sehr detailliert die Stationen von Lydia Cederbaums Lebensweg von Rußland über Deutschland (1922-1932) und Frankreich (1932-1940) in die Vereinigten Staaten (1940-1963) nach.
Daß das Herz der Verfasserin für ihre Heldin und die von dieser vertretene parteipolitische Richtung in der russischen Sozialdemokratie – die der »Menschewiki« – schlägt, versteht sich von selbst und steht für mich auch außerhalb jeder Kritik. Problematisch indessen scheint mir, und vielleicht werden auch andere, durch den Bildungsweg im Osten mit der Geschichte der SDAPR und der KPR(B) vertrautere Leser diesen Eindruck bestätigen, daß diese »Positionierung« durch die Autorin mehr postuliert als entwickelt wird.
Die Darstellung der Auseinandersetzung um Statut und Programm der russischen Sozialdemokratie ist eher holzschnittartig und die Zuordnung der Argumente zu den streitenden Vertretern und Flügeln seitenverkehrt (siehe die Seiten 72 und 82).
Daß es der Autorin nicht in jedem Fall gelingt, alle Akteure so ausgewogen wie Lydia Cederbaum vor- und darzustellen, liegt wohl auch an den herangezogenen Konsultanten. Robert Service, um ein Beispiel zu nennen, ist wahrlich nicht der beste Berater, wenn es um Auskünfte zur Biographie von Uljanov-Lenin geht. Daß bei der Fixierung auf die Cederbaums andere Kampfgefährten und Opponenten zwangsläufig zu kurz kommen, ist ebenso bedauerlich wie nachvollziehbar. So hätte ich zum Beispiel gern mehr über Boris Savinkov, den Bruder des Lebensgefährten von Lydia in der sibirischen Verbannung erfahren. Haben sich beide in Genf getroffen und des Verstorbenen gedacht? (Seite 74)
Mehr als problematisch ist hingegen die Häufung von Fehlern, die nicht nur auf das vernachlässigte Lektorat zurückzuführen sind. In einer Dissertation, deren Gegenstand so eng mit der Geschichte der russischen Sozialdemokratie verflochten ist und in deren Danksagung ausgewiesene Kenner der Materie genannt werden, sind »Irrtümer« wie die nachgenannten mehr als unverständlich. Es geht mir nicht um den kleinlichen Hinweis auf falsch geschriebene Personennamen oder die nicht durchgehaltene Umschrift. Das Problem ist grundsätzlicher Natur. Es hängt mit fehlender Recherche zu jenen Problemfeldern zusammen, die an die Familiengeschichte grenzen. So ist zum Beispiel der unter seinem Parteinamen Bogdanov bekanntere Malinovskij mit dem Provokateur gleichen Namens verwechselt worden (Seite 93), keiner von beiden lebte bis 1928 in der Emigration. »Das Institut für Marxismus-Leninismus, so die korrekte Bezeichnung«, heißt es an anderer Stelle, »war beim Zentralkomitee der KPdSU 1920 als eine Einrichtung zur Erforschung und Herausgabe der Werke von Marx, Engels und Lenin gegründet worden« (Seite 137). Hier stimmt weder das Gründungsdatum noch der Name, von dem fehlenden Hinweis auf die Umstände der Zusammenlegung beider Einrichtungen 1931 ganz zu schweigen. Ein Blick in die auf Seite 140 genannten Ausarbeitungen hätte genügt, um diesem Irrtum zu entgehen.
Zu den in der politischen Biographie eher als »Randfiguren« behandelten Personen gehören unter anderem der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets mit dem komplizierten Vornamen (Seite 105) und Georgi Plechanov, der im Buch als Gregorij oder mit den Initialen G. B. versehen, erwähnt wird. Samuel H. Barons Buch über den »Patriarchen« erschien in russischer Übersetzung – nur unter einem anderen Titel. An Exaktheit mangelt es auch hinsichtlich der Kommentare über Leben und Werk der Bolschewiki Zinov’ev, Kamenev (Seite 105) und Trockij, deren »Gesinnungswandel« (Seite 74) im Unterschied zu dem der Cederbaums nicht im Kontext ihrer jüdischen Herkunft behandelt wird. Während Kamenevs bürgerlicher Name nicht genannt wird, erscheint Zinov’ev als Gerschen Radomyschelski, Rjazanov als Goldenbach und dessen Gegenspieler Angarov als Angarskij.
Anhand der nunmehr vorliegenden Edition der Sitzungsprotokolle des Politbüros der Kommunistischen Partei Rußlands läßt sich präzise bestimmen, wann und in welchem Zusammenhang von Martov, Dan sowie den Mitgliedern der Familie Cederbaum im bolschewistischen Führungszirkel die Rede war und wer von den Genossen – in der Regel war es Trotzki – als Berichterstatter auftrat. Der in Frage kommende erste Band der drei Bände umfassenden und mit einem guten Apparat ausgestatten Ausgabe ist 2000 veröffentlicht worden und hätte schon deshalb bei der Vorbereitung des Manuskriptes für den Druck herangezogen werden können. Svetlana Jebrak hat auf eine Auswertung dieses Bandes sowie des themenbezogenen Materials aus der verdienstvollen, in der Bundesrepublik jedoch weitgehend unbekannten Edition der mittlerweile acht Bände umfassenden Dokumente der Menschewiki verzichtet.
Schade, denn so werden Parallelen und Unterschiede, Übergänge und Bruchstellen zwischen Familien- und Parteigeschichte kaum reflektiert. Dabei führt die Autorin genügend Beispiele dafür an, daß Familienleben und politisches Engagement wohl eher schwer miteinander in Einklang zu bringen waren. Mitte der zwanziger Jahre in Berlin, nach dem Tod und der Beisetzung des Bruders in Berlin (siehe hierzu: Russen in Berlin, in: Blättchen, 12/1998) schien sich die Situation etwas gebessert zu haben.
Die letzten zwei, dem Exil in Frankreich und in den USA gewidmeten Teile heben sich wohltuend von den vorhergehenden ab. Auch die Perspektive ändert sich, für die Einschätzung der Emigranten und der Emigration relevante Themen kommen ins Bild. Vielleicht hängt das mit dem Bestreben von Lydia Cederbaum zusammen, nach dem Verlust der russischen Staatsangehörigkeit und ihrer russischen Heimat »eine ideelle Heimat« neu zu erfinden (Seite 277).
Svetlana Jebrak: Mit dem Blick nach Russland. Lydia Cederbaum (1878-1963). Eine jüdische Sozialdemokratin im lebenslangen Exil. J.H.W. Dietz Nachf. Bonn 2006, 296 Seiten, 34 Euro
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