13. Jahrgang | Nummer 10 | 24. Mai 2010

Die Ossi-Legende, Teil 1

von Max Hagebök

Die große Resonanz auf den 2. Teil hat mich mutig gemacht. Deswegen habe ich mich entschieden den Teil 1 folgen zu lassen. Nicht verwunderlich, da die empirischen Daten zu dem Volksstamm Ossi weitaus mehr kenntnisreiche Erklärungen für das heutige Leben ermöglichen als bisher angenommen. Ich möchte keineswegs die Aktenlage der Behörden unterschätzen, aber sie dienen kaum der Wahrheitsfindung, wenn es um den gemeinen DDR-Bürger genannt Ossi geht.

Als Teilnehmer des großen Feldversuches genannt DDR, altersbedingt nicht über den ganzen Zeitraum, billige ich mir den nötigen Sachverstand zu, um die letzten Geheimnisse dieser Spezi Ossi zu veröffentlichen.

Völlig unwissenschaftlich gestatte ich mir, das Ergebnis meiner Untersuchung voran zu stellen.

Der Ossi ist der Spezies Wessi in allen Facetten des Überlebens in der heutigen Gesellschaft überlegen. Seine Sozialisation macht es ihm unmöglich, Opfer zu sein. Bitte jetzt nicht reflexhaft daraus schlussfolgern, dass der Ossi somit Täter ist.

Nein. Er und auch seine weibliche Form sind nicht in diesen Kategorien zu verstehen.

Ossis gehen in jeder Minute ihres Lebens eine Symbiose mit ihrem Umfeld ein. Ihre biologischen und sozialen Wurzeln lassen ihn jede Umwelt als Freund betrachten. Somit lebenswert oder besser gesagt liebenswert. Deshalb war die Wende für ihn gar keine. Er lebte seinen Stiefel weiter.

Dies zu bewiesen, bedarf einiger weniger Fakten.

In den letzten Jahren wurde es modern, das eigene Leben in Netzwerken zu strukturieren. Scheinbar aus dem Nichts entstand die Botschaft, daß das erfolgreiche Leben nur dann möglich ist, wenn in Netzwerken der eigene Nutzwert von andern vergütet wird. Die Wessis stürzten sich darauf und schufen StudiuVZ oder Xing. Der Ossi lächelte. Für ihn sind Netzwerke kalter Kaffee. In der kleinen Republik fuhr ohne Netzwerk kein Auto, kein Bad hatte Kacheln (Fliesen) und so manche Südfrucht wär in der Provinz unbekannt geblieben. Dies sind nur Beispiele, denn der gesamte Markt der DDR lief mit Vitamin B. Jeder Wessi wäre überfordert, unter DDR Bedingungen einen Umzug von A nach B zu organisieren. Denn er wüßte nicht, daß von A nach B über C, D, E und Z umgezogen wurde. Tauschhandel war das Netzwerk des Ostens.

Aus diesem Tauschhandel erwuchs eine weitere Überlegenheit. Der Ossi ist kreativ und schnell. Er ist rasend schnell in der Lage, für ihn wichtige Dinge zu erfassen, sie zu benennen und zu lösen.

Sobald er über Dinge informiert wurde, die seinem unmittelbaren Lebensverständnis betrafen, organisierte er Lösungen. Wenn es zum Beispiel während seiner Arbeitszeit bei Fleischer Schmidt Nußschinken gab, dann teilte er dieses Wissen mit einem Vertrauten. Dieser übernahm die Arbeit und der Informierte verließ den Betrieb (Firma), um selbigen Schinken für sich und für den anderen zu holen. Auch andere Waren des täglichen Bedarfs lösten sofortiges Handeln unabhängig von der Planerfüllung aus. In der heutigen Warenschwemme sind diese wunderbaren Eigenschaften für den Alltag nicht mehr zu gebrauchen. Deshalb verlagert der Ossi seine Kreativität und Schnelligkeit in die Arbeitswelt. Ohne diese Eigenschaften hätte es der Ossi nie geschafft, sich vom Diplomingenieur zum Tankwart oder Versicherungsvertreter zu qualifizieren. Dieses Phänomen der Disqualifizierung aller Lebensläufe war nur mit dem Ossi möglich. Denn dessen Sicht der Dinge läßt ihm gelassen auf solche Veränderungen blicken. Für ihn ist Arbeit immer nur Mittel zum Zweck und nicht wie bei den Wessis ein Feld der Selbstverwirklichung.

Deshalb kann der Ossi auch psychisch robuster in die Zukunft schauen. Er paßt die Arbeit seinen Wünschen an und sieht in ihr nur eine zeitweise Unterbrechung seiner Freizeit.

Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, daß der Ossi in den heutigen Werten bestens aufgestellt ist und dies nicht erst lernen mußte.