von Peter Braune
Zum Aufruf kommt Posten Nummer 624. Wer bietet?« Hinter einer Barriere aus Plastikband reißt eine kleine Frau ihre Augen weit auf und ihre Arme hoch. Mit den stummen Gesten einer Stewardess zeigt sie an: Dieser Posten an der Betonwand reicht von dem Besenschrank rechts bis zu den aufgetürmten Umzugskisten auf der Waschmaschine links. Dazwischen ungefähr zehn Meter Hausrat. Eine verschlissene Sitzgruppe, ein Kinderbett, Fernseher mit Satellitenschüssel, eine Schrankwand, der gesamte Inhalt einer Wohnküche und davor ein Damenfahrrad mit Einkaufskorb.
»Ein Euro!« Alle fünfzig Männer und eine Frau mit glänzenden Goldzähnen im rot geschminkten Mund im Ausstellungs- und Versteigerungsraum der Pfandkammer Charlottenburg brechen in höhnisches Gelächter aus. »Er schon wieder!« Der Mann neben mir im grünen Parka und erkaltetem Zigarillo im schrägen Mundwinkel grinst mich verständnisvoll an. Das gesamte häusliche Umfeld einer Familie für nur einen Euro! Das geht ihm doch zu weit, wenn auch er und alle anderen nur darum hier sind, an diesem Vormittag ein Schnäppchen zu machen. Jeden Freitag ist hinter der schmucklosen Kirche St. Albertus Magnus in Wilmersdorf Jagdzeit. Beide Höfe, die zur Pfandkammer führen, sind mit Kleinlastwagen und alten Kombifahrzeugen zugeparkt. In ihnen soll die Beute abtransportiert werden, die ihre Besitzer in den vergitterten Räumen zu ergattern hoffen.
Alle ersteigerten Gegenstände müssen bis 14 Uhr des gleichen Tages abgeholt werden! Mehrere Schilder mit dieser Aufschrift sind der einzige Schmuck an den kahlen Wänden mit schmalen vergitterten Fenstern kurz unter der Decke. Monoton schallt jetzt aus einem Lautsprecher die Stimme des Versteigerers durch den Raum. »60 Euro sind geboten! 85 dort, 100 Euro!« Die Anwesenden geraten in Bewegung. Hier reckt sich ein Arm mit zwei Fingern, was aus dem Lautsprecher mit »120 Euro!« quittiert wird, dort klingt eine raue Stimme auf: »160!« Jetzt folgt Gebot auf Gebot. Bei 1120 Euro knallt der Hammer auf das erhöhte Pult. Der Zuschlag geht an einen untersetzten Mann mit grauem Jackett und kariertem Schal.
Es ist kühl in dem ungeheizten Raum. In der Hoffnung auf etwas Wärme, folge ich dem neuen Besitzer der kompletten Wohnungseinrichtung in die hinteren Geschäftsräume der Pfandkammer. »Wohin möchten Sie?« Ein Riese mit kahlem Schädel stellt sich mir in den Weg. Ich nuschele etwas von Presse zu ihm hinauf und daß ich den Inhaber der Pfandkammer sprechen möchte. »Chef, da ist mal wieder einer von der Zeitung!« Kaum habe ich den kleinen überhitzten Geschäftsraum betreten, führt mich der Boss wieder auf den Gang zurück. »Keine Fragen, keine Fragen!« Und schon stehe ich auf dem Hof zusammen mit den Transportern und Kombis. Aus dem Versteigerungsraum dringen neue Angebote zu mir hin. Eine Frau hat jetzt das Mikrofon übernommen. »650 Euro sind geboten, wer bietet mehr?«
Weil mir vieles unklar geblieben ist, gebe ich zu Hause das Wort Pfandkammer in die Suchmaschine ein und erfahre aus der Gerichtsvollzieherordnung (GVO), daß in diesen Kammern nur durch Zwang eingezogene Gegenstände oder Diebesgut zur Versteigerung kommen. Diese Versteigerungen müssen außerhalb der geschützten Räume des Gerichts stattfinden. Was dann dort passiert, ist nur der Abschluß einer Kette von Zwangsmaßnahmen, die mit Androhungen von Räumungen beginnen, zum Aufmarsch von Räumkommandos führen und mit dem Abtransport der gesamten Wohnungseinrichtung von Schuldnern führt. Einhellig wird im Internet berichtet, daß es über diese Vorgänge in Berlin, Köln oder München kein statistisch gesichertes Material gibt. Gesichert ist jedoch, daß die Zahl der Zwangsräumungen ständig zunimmt. Und damit auch die Zahl der Schnäppchenjäger mit ihren Kleinlastern und Kombis, die sich in den Pfandkammern der Stadt versammeln und auf die Beute stürzen.
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