Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. März 2007, Heft 6

Zwischen Symbol und Realität

von Heinz-Uwe Haus, Newark (Delaware)

Zu berichten ist von einem Buch über William Butler Yeats (1865-1939), verfaßt von Fred Lapisardi, das einzigartig in der Flut theaterwissenschaftlicher Subspezialisierung dasteht: Es verbindet Forschung und Erfahrung. Lapisardis Tätigkeit als Universitätsprofessor – jahrzehntelang an der California University in Pennsylvania – und als Dramaturg – unter anderem am Abbey Theater in Dublin – sowie die Tatsache, daß er alle Yeats-Stücke beforscht und zugleich aufgeführt hat, erzeugen eine verständliche Beschreibung der Yeatschen Theaterauffassung.
Denke ich an Yeats, kommen mir Synge, O’Casey, Becket und Brehan in den Sinn: So verschieden sie auftreten, so einhellig sind sie verbunden in ihrer ausufernden Sprache, in originellen und kraftvollen Bildern, hemmungsloser Phantasie, leidenschaftlicher Wortkultur, praller Lebenslust und einem Hang zu Märchenwundern, grausamen Grotesken und den Schauern des Unheimlichen. Ihre Theaterdichtung ist gestisch im wahrsten Sinne Brechtschen Verständnisses: die Sprache der Unterdrücker unterwandert und beschenkt! Sie alle erinnern daran, wie und wo und warum das moderne Theater des Westens in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung der Poesie der sozialen Wirklichkeit begann: in Paris das Theatre Libre, in Berlin der Verein Freie Bühne – und in Dublin, der britischen Kolonie, die Irische Nationale Theatergesellschaft, die Yeats als letzter im Bunde 1902 gegründet hat. Der »Naturalismus« dieser die Moderne vorbereitenden europäischen Bewegung verband und revolutionierte alles, was bis dahin als Mittel und Möglichkeiten des Theaters angesehen wurde. Stanislawski und Georg von Meiningen, Hauptmann und Schnitzler, Ibsen, Pasetti und Pallenberg – Schauspieler, Bühnenbildner, Dramatiker und Regisseure entdeckten einen Realismus sozialer Natur, der auf immer das Handwerk und die Zuschaukunst im Theater verändert hat. Ihre intime Kenntnis der menschlichen Seele und ihre Liebe zu den Menschen, besonders zu den Armen und Unterdrückten, gab fortan dem Theater eine Deutungshoheit auf, die es befähigte, in den kommenden Umbrüchen der Zeit Farbe zu bekennen.
Was mich für Fred Lapisardis Aufzeichnungen einnimmt, ist diese Wiederbegegnung mit Ursprüngen modernen Theaterverständnisses, die zugleich Zeugnis einer anhaltenden Auseinandersetzung ist. In neun Kapiteln wird die Rezeptionsgeschichte des Yeatschen Werkes wie ein Modell für unsere Welt, Kunst und Moral vor Augen geführt. Es weckt Interesse für eine Lebendigkeit des Theaters, die für viele Zeitgenossen außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegt, weil sie sie nie erfahren haben. Das Buch spricht nicht von Vergangenem, sondern vor allem von der Utopie der Aufführbarkeit Yeats’. Das ist, was die Beschreibungen Fred Lapisardis insgeheim zur Kampfansage an die herrschende ästhetische Erschöpfung auf den Bühnen der westlichen Welt macht. Dabei trumpft Lapisardi mit seiner »komplementären Perspektive« ebensowenig auf wie Yeats das mit seinem verfremdenden Denken nach dem Begreifen des No-Theaters getan hat. Der Literaturwissenschaftler folgt dem Dramatiker hingebungsvoll in dessen Glauben an das wachsende Selbstbewußtsein des Publikums. Damit ist der Leser eingeladen, den Kontext nicht aus den Augen zu verlieren und Kurs zu nehmen weg vom Do-it-yourself-Muckertum zurück zum Gemeinschaftserlebnis, das mit Thespis begann und mit Brecht nicht endete. Es gelingt Lapisardi, sich Yeats’ »Gebrauchswert« für das heutige Paris, Berlin und Dublin (und den Rest der westlichen Welt!) zu vergewissern. Als Regisseur weiß ich, wovon ich rede.
Das abendländische Menschenbild, dem Yeats im 20. Jahrhundert noch einmal explizite Züge geben konnte, weil es seine Herkunft nicht verleugnete, steht allein damit schon gegen den herrschenden Hinrichtungswillen. Es ist aus sich selber heraus die menschenwürdige Abwehr von Dekonstruktion und Beliebigkeit. Es portraitiert eine Seinswahrheit, die ein mächtiges Plädoyer für die Kunst des Theaters ist. Aber – und das macht Yeats zum Verbündeten von so konträren Zeitgenossen wie Kafka und Brecht – in seinen Texten, in denen wir Dunkelworte zuhauf finden, wird die Wehrlosigkeit des Geistes gegenüber den Realitäten ausgelotet, nicht ohne Dorn und Zorn, keineswegs behaglich. Mir scheint, als habe Yeats des Pragers Satz von der Axt »für das gefrorene Meer in uns« mählich auch zur Erkenntnis seiner eigenen Ohnmacht angenommen. Seine Wortgespinste finden sich aber auch den Sprüchen des Augsburger Sternendeuters wieder, dessen Keuner-Geschichten auch in Dublin im gottlosen Zweifel an der Sprache aufgehen. Es ist ein Verlust, wenn die Hellhörigkeit, die in Yeats Dichtungen mobilisiert wird, unbeachtet bleibt.
Yeats war zweifelsohne ein rigoroser Theatermann von einer Daseinsbejahung, die in einem Zeitalter der Selbstdemontage wie ein Mahnmal der Toleranz erscheint. Fred Lapsardis Stärke ist es, dem Leser das Gefühl zu vermitteln, daß wir nicht wahllos mit Theaterstecken, mit Geschichten und Mythen verfahren können, weil der Mensch ein selbstinterpretierendes Wesen ist, das ohne Traditionen und Bilder verloren ist. Yeats ist als ein wunderbares Beispiel zu begreifen, wie im Symbolischen etwas vom Menschen steckt – wer es zertrümmert, behält nur die negative, die bilderlose Freiheit zurück.
In einem Augenblick, da die nationalen Schaubühnen Europas zu Schädelstätten der Perversion verkommen sind, ist die Vision des Einhorns wie eine Regieanweisung für die kommenden Proben. Erinnern wir uns an den Vorgang. Der junge Martin zieht aus, um die bestehende Ordnung zu zerstören und um das Paradies des »leuchtenden Landes« auf Erden zu errichten. Bettler und Landstreicher schließen sich ihm an, raubend und sengend. Bevor er von Konstablern getötet wird, erfährt er von seinen »Stimmen«, daß er sie falsch verstanden hat: Sein Auftrag ist »nicht Vernichtung, sondern Verkündigung«. Das ist ein Vorschlag zur Güte, die in den Mühen friedlichen Wandels wächst.
Fred Lapisardis Buch berichtet von einem Künstler und seinem Werk, das totgesagt wird, aber, wenn aufgeführt, den erstarrten Menschen unter die Haut geht. Geschichte, Geschichten und ihre Bedeutung werden zitiert und schaffen eine Vorstellung von der »irischen Renaissance«, die ohne Yeats’ keltischer Erlösungssehnsucht und kraftvoller Volkspoesie keinen Glauben an die tatsächliche Veränderbarkeit des Menschen und seiner Gesellschaftsordnung verbreiten könnte.

Frederick L. Lapisardi: Staging Yeats in the Twenty-First Century, A Reception History, The Edwin Mellon Press Lewinston, 530 Seiten, 39,70 Dollar