Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. Februar 2007, Heft 4

Geschichtsunterricht

von Wladislaw Hedeler

Auf dem Weg zur Schule kam ich täglich an dem Haus vorbei, neben dessen Eingangstür heute eine Gedenktafel für Siegfried Berger angebracht ist. Brigitte, die mit mir in eine Klasse ging, wohnte im Eckhaus nebenan. Das wußte ich, von Berger hatte ich nie gehört. Meine Schule war nach Hans und Hilde Coppi benannt. Damals trugen nur wenige Straßen die Namen von Antifaschisten. Die heute in Treskowallee rückbenannte Karlshorster Magistrale kannte ich als Hermann-Duncker-Straße. Wir wohnten in der Frankestraße, unweit des hohen Zaunes, der das russische Viertel umgab. Deren Parallelstraße war nach Ohm Krüger benannt. Beide kreuzten die Dewetallee.
Dann verschwand der Zaun, der das Militärstädtchen umgab, und nur ein paar Straßenzüge um das Kapitulationsmuseum herum blieben noch gesperrt. In das Gebäude des ehemaligen Militärhospitals zog die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften ein. Über die nicht mehr abgesperrte Köpenicker Allee erreichte man schnell die Wuhlheide. Von da aus – vorbei an der Alten Försterei – war es nur noch ein Katzensprung bis Köpenick.
Im Januar 1976, wir waren längst aus Karlshorst weggezogen, setzten die Umbenennungen ein. Die nach dem Burengeneral Dewet benannte Allee hieß von nun an, wenn auch nur vorübergehend, nach dem Grenzsoldaten Siegfried Widera. Das hing wohl mit dem Einzug des Grenzkommandos Mitte in das von der Roten Armee geräumte Stabsgebäude am Ende der Straße zusammen. 1995 wurde die Straße erneut, dieses Mal in Rheinpfalzallee, umbenannt. Johannes Zoschke und Rudolf Grosse, die 1976 als Namengeber an die Stelle von Victor Franke, dem »Kommandeur der kaiserlichen Schutztruppe« und Onkel Krüger getreten waren, sind geblieben.
Mein Schulweg nahm nicht sehr viel Zeit in Anspruch. Der Fahrer des Autos, mit dem der »Streikführer Berger« in den Morgenstunden des 20. Juni 1953 abgeholt und zunächst in das Berliner Polizeigefängnis gebracht wurde, könnte ein Stück des mir bestens bekannten Weges gefahren sein, denn es war die kürzeste Verbindung zur Cäsarstraße, Bergers Adresse. Am 18. Juni 1953 hatte Walter Ulbricht in einem Fernschreiben an alle 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED die Verhaftung der Mitglieder der Streikleitungen angeordnet. Wer möchte, kann es in der von Wilfriede Otto besorgten Ausgabe der »internen Dokumente der SED vom Juni und Juli 1953« (Karl Dietz Verlag Berlin 2003) nachlesen.
Im Neuen Deutschland und in den Bezirkszeitungen der SED lief eine entsprechende Pressekampagne an. In der Ausgabe vom 21. Juni 1953 findet sich neben einem verlogenen Bericht über die Ereignisse im Funkwerk unter anderem ein Artikel über »die Köpenicker Blutwoche vor 20 Jahren«, der vorgibt, eine eindringliche Mahnung zu sein. »Die Ereignisse vor wenigen Tagen, als faschistische BFJ-Banditen und andere von den Kriegsbrandstiftern in Westberlin kommandierte amerikanische Agenten durch Morddrohungen, Brandstiftung und Plünderung von Volkseigentum die Bevölkerung des demokratischen Sektors von Berlin und einiger Städte der Deutschen Demokratischen Republik terrorisierten, rufen eindringlich die Erinnerung an jene entsetzlichen Greuel wach, die vor 20 Jahren verübt wurden.«
Nach zehn Tagen Haft im Polizeigefängnis wurde Berger dem KGB übergeben und kam in das Untersuchungsgefängnis von Karlshorst, in das ehemalige Krebsforschungsinstitut. »Die früheren Leichenzellen im Keller wurden als Gefängniszellen genutzt«, berichtet Berger. Auch andere Workuta-Häftlinge erwähnen die Karlshorster Keller in ihren Erinnerungen. Am Nachmittag des 1. Oktobers 1953 begann die am darauffolgenden Tag mit der Urteilsverkündung abgeschlossene »Verhandlung« vor dem sowjetischen Militärtribunal. Berger erkannte das Urteil nicht an und weigerte sich, das Verhandlungsprotokoll zu unterschreiben. Mitte Mai 1954 ging es im Gefängniswagen zunächst in die Moskauer Lubjanka, dann nach Workuta. Anfang Juni kamen die Verurteilten im »Besserungsarbeitslager« am Polarkreis an.
Weder in der Zementfabrik, auf dem Holzplatz noch auf der Baustelle des Heizkraftwerkes konnte Berger die Arbeitsnorm erfüllen. Geschwächt wie er war, ist es fraglich, ob er die körperlich schwere Zwangsarbeit noch ein weiteres Jahr überlebt hätte, wenn man ihm nicht eine Arbeit als Elektriker zugewiesen hätte. Für ihn und die anderen zur Zwangsarbeit ins Polargebiet verschleppten Deutschen brachte die Moskaureise von Adenauer 1955 die Entlassung.
Die daraufhin vom MfS gegen ihn, seine Ehefrau und die Eltern eingeleiteten Maßnahmen waren weder willkürlich noch zufällig, sondern folgten politischen Vorgaben. Dabei ging es der SED-Führung neben der Verfälschung des Charakters der Ereignisse vom Juni 1953 um die Verhinderung der Klärung der eigentlichen Ursachen. Es ist viel darüber geschrieben worden, wie die in einen faschistischen Putschversuch uminterpretierten Juni-Ereignisse zur Disziplinierung der Parteimitgliedschaft und der Bevölkerung in der DDR genutzt worden sind. Nachwirkungen dieser Indoktrination sind bis auf den heutigen Tag spürbar.
So war es auch am 29. Januar 2007, Bergers fünftem Todestag, als die Straße 244 im Ortsteil Wendenschloß des Stadtbezirkes Köpenick in Siegfried-Berger-Straße umbenannt wurde. Die Ehrung eines Opfers des 17. Juni weckte bei einigen Anwohnern ein verinnerlichtes und tiefsitzendes Feindbild.
Der von den russischen Behörden im April 1996 rehabilitierte Berger war und blieb für die kleine Gruppe murrender Bürger ein »Sozi«. Ihr Herz schlug für den einst hier befindlichen Bollehof (sie hielten ein Transparent hoch: »SPD Igel kommt und geht – der Bollehof bleibt«; Sven Igel ist der dortige SPD-Fraktionsvorsitzende). Das ist nun Geschichte.
Um im Bild zu bleiben: An die Stelle der in den Geschichtsbüchern beschriebenen Straßenschlachten ist der Kampf um die Deutungshoheit auf Straßen, Plätzen und Friedhöfen getreten. Das belegen nicht zuletzt die in der sozialistischen Tageszeitung nachzulesenden Wortmeldungen im Zusammenhang mit der Einweihung einer Ausstellung in der Fröbelstraße in Prenzlauer Berg und die um den Stalinismus-Gedenkstein auf dem Friedhof in Friedrichsfelde. Man darf gespannt sein, wie es im Jahre 90 nach dem Oktober 1917 weitergeht.