Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 19. Februar 2007, Heft 4

Kapitalismusmüde

von Jörn Schütrumpf

Die Stimmung unter den »kleinen Leute« verändert sich im Moment fast mit jeder Nachrichtensendung. In ihren Augen hat in jüngster Zeit die in der Gesellschaft praktizierte kapitalistische Produktionsweise an Attraktivität verloren. Statt wenigstens – und sei es auch nur scheinbar – so viel zu geben, wie sie nimmt, überfordert diese Produktionsweise immer spürbarer die ihr Ausgelieferten. Langsam ist sie ihnen nicht nur finanziell zu kostspielig, sondern auch in ihren Ansprüchen an Psyche und Physis immer schwerer erträglich.
Die Täter des Neoliberalismus haben damit ihr wesentliches Ziel erreicht: Fast niemand fühlt sich mehr sicher – eine Gesellschaft in Angst, von einer verkommenen Politikerkaste, die sich ihrerseits jedoch absolut sicher und zu allem berechtigt fühlt, vorsätzlich herbeireformiert; die Opfer werden verhöhnt. Die Anlegerzeitschrift der Welt am Sonntag, Euro spezial, erschien am 4. Februar triumphierend mit einer Heuschrecke auf dem Titelblatt: Private Equity – Kapital, das beflügelt.
Schaut man in die Umfragen über den Zustand der Gesellschaft, wird deutlich: Eine lange Phase der Toleranz gegenüber der kapitalistischen Produktionsweise bewegt sich auf ihr Ende zu. Von Tag zu Tag empfinden mehr Menschen den gelebten Kapitalismus als zu anstrengend.
Jedoch sollte niemand diese Ermüdung mit Antikapitalismus verwechseln. Der entsteht nicht durch Leiden, sondern nur durch Erfahrung, die allein dem Handeln entspringen kann. Stets lautet in solchen Situationen der erste Satz: »Der Kaiser ist nackt.«
Aber den hört man nur von rechts. Die Linke vereinigt sich indes vor sich hin – und verschleißt sich in Flügeln, in Eckpunkten und stolz in einer Regierungsbeteiligung, ohne auch nur auf die Idee zu verfallen, daß sie jetzt gerade wirklich einmal benötigt würde.
An den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise war Kapitalismusmüdigkeit schon einmal zu beobachten gewesen: Denn die von dieser Produktionsweise Betroffenen waren ihrer schnell leid geworden; eine Bewegung der Arbeiter war entstanden. Im kaiserlichen Preußendeutschland und im k.u.k. Österreich hatte sie sich mehrheitlich mit sozialistischem, also antikapitalistischem Ideengut verbunden; anderswo blieben diese Positionen zumeist in der Minderheit – auch in Deutschland und (Rest-)Österreich ist das unterdessen seit Jahrzehnten so.
Bleiben wir im folgenden ein wenig bei Deutschland: Die Sozialdemokratie wehrte sich in ihren Anfängen so erfolgreich gegen diese Produktionsweise und deren Exponenten in Wirtschaft und Staat, daß die sich bessernden Arbeits- und Lebensbedingungen den Mehrwertschaffenden zu Hoffnungen auf ein glückliches Leben – mindestens für die nächste Generation – Anlaß gaben. Denn spätestens mit dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 waren die deutschen Eliten vom (vorerst verlorenen) Bewegungskrieg zum Stellungskrieg samt Zugeständnissen an proletarisierte Existenz und Seele übergegangen. Die Kapitalismusmüdigkeit verflog, und die proletarischen Massen folgten ihren in der Falle ihres eigenen Erfolgs festsitzenden sozialdemokratischen Führern überall hin – bis zu den Schlachtbänken des Ersten Weltkrieges, auf denen sie zwar kriegsmüde, aber keineswegs kapitalismusmüde wurden.
Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Genossen haben das 1918 nicht verstanden und dafür den höchsten Preis gezahlt: das Leben. Denn es bedurfte noch einer alle Geldwerte vernichtenden Inflation, einer sogenannten Stabilisierung, in der die nicht abgesicherte Arbeitslosigkeit kaum unter acht Prozent sank, und der Katastrophe der Weltwirtschaftskrise, ehe erneut Kapitalismusmüdigkeit ausbrach.
Der Arbeiterbewegung war damals aber längst die Bewegung abhanden gekommen. Daß Kapitalismusmüdigkeit einst den Boden für eine erfolgreiche antikapitalistische Politik bereitet hatte, war ihren Protagonisten schon lange nicht mehr bewußt – insofern es ihnen überhaupt je bewußt gewesen war. Schließlich hatten sie nicht einmal begriffen, daß seit der Abwanderung des Hauptkriegsverbrechers nach Doorn und dem Zustandekommen einer Republik als Hinterlassenschaft einer schnell zerstiebenden soldatischen Rätebewegung Deutschlands Eliten den Klassenkampf von oben wieder als Bewegungskrieg exerzierten.
Zudem war die Linke gespalten in einen sozialdemokratischen Koloß auf tönernen Füßen, dessen Vorsteher für sich nur noch die Rolle des »Arztes am Krankenbett des Kapitalismus« sahen, und in eine fremdfinanzierte »Bruderpartei«. Die bediente statt der Interessen ihrer eigenen Klientel die Wünsche eines ausländischen Staates – dessen innere Zustände sie mit viel Sozialromantik erfolgreich zu verschleiern wußte. 1932/33 dann stürzte sie sich mit absurder Propaganda für ein Sowjetdeutschland und mit Sozialfaschismuspöbeleien auf den Lippen in den Abgrund und riß viele ihrer Anhänger ins Unglück.
Den Kapitalismusmüden machten mit einem simulierten, dafür um so zügelloseren Antikapitalismus die Volksgemeinschaftssozialisten die interessanteren Angebote. Und: Die Linke lieferte nicht nur sich selbst ans Messer, sondern gab damit – zwar wider Willen – den Neuordnern Europas den Weg zu ihren Massenverbrechen frei. Deutschand »erwachte«.
Selbst nach der Niederwerfung der Nationalsozialisten wagte zunächst niemand, sich offen zur kapitalistische Produktionsweise zu bekennen (siehe Ahlener Programm der CDU, Februar 1947). Walter Ulbricht, der starke Mann im Osten, polemisierte deshalb als erstes auch nicht etwa gegen »Kapitalismus und Imperialismus«, sondern schrieb Ein Lehrbuch für das schaffende Volk über Die Legende vom »deutschen Sozialismus« (Berlin 1945 – ab 1952 unter: Der faschistische deutsche Imperialismus).
Erst im Jahre 1949 kippte in allen Besatzungszonen die Stimmung zugunsten der kapitalistischen Produktionsweise. Denn die Mehrheit der Menschen war der staatlichen Rationierung, der seit 1936 praktizierten Verwaltung des Mangels, endgültig überdrüssig. Zudem trieb das, was nun im Osten Deutschlands Sozialismus genannt wurde, wachsenden Teilen der Bevölkerung die Ablehnung des Kapitalismus gründlich aus. Walter Ulbricht wurde Ludwig Erhards, des Vorzeigeministers des westdeutschen Wirtschaftswunders, berechenbarster und liebster Propagandist.
Auch im Westen gewann die kapitalistische Produktionsweise durch eine langanhaltende Prosperität an Anhängern. Ermöglicht wurde sie durch die investitionsintensive Rekonstruktion der gestörten Wirtschaftsabläufe und durch die Einbindung der Bundesrepublik in den Welthandel zu günstigsten Konditionen dank eines deutlich überbewerteten Dollars. Wachstumsraten von acht Prozent, später immerhin noch fünf Prozent, gestatteten hohe Profite samt eines »Leben-und-leben-lassens« für die Mehrwertschaffenden. Zudem hatten die Eliten Angst vorm »Mob«.
Auf dieser Grundlage konnten auch in Westdeutschland die nach dem Krieg international dominierenden Ideen vom Ausgleich der Interessen durch einen mit einer hohen Staatsquote finanzierten Sozialstaat verwirklicht werden. Es herrschte ein Stellungskrieg von einer bis dahin unbekannten freundlichen Art.
Die Konkurrenz der DDR tat ein übriges; die wirkte selbst noch, als der Staat hinter der Mauer längst kein Konkurrent mehr war. Doch so wie die Fünf-Pfennig-Schrippe des Ostens sozial die Gier der Herrschenden an Ruhr und Rhein zügelte, legitimierte Bautzen II politisch deren Herrschaft, KPD-Verbot eingeschlossen.
Die Profitrate indes hielt sich an Marxens Voraussage: Sie sank und sank; in diesem – zweifellos entscheidenden – Punkt hat Karl Marx recht behalten. Seit Mitte der siebziger Jahre war dieses Sinken auch nicht mehr durch eine Ausweitung der Profitmasse zu kompensieren. Doch die Westlinke, soweit sie nicht in Moskau, Peking oder Tirana das neue Jerusalem sah, schlief und hielt die westdeutsche Wohlfü hlgesellschaft für gottgegeben – wenn sie sie nicht gar als Frucht ihres eigenen segensreichen Wirkens ansah.
Der Sozialstaatsgesellschaft der Bundesrepublik läutete mit dem Fall der Mauer das Totenglöcklein. Viele westdeutsche Linke können den ostdeutschen Poststalinisten ihr Versagen im Jahre 1989 bis heute nicht verzeihen. Es war doch schön gewesen, als die Mauer noch stand und der Osten der westdeutschen Linken – vor allem in SPD und Gewerkschaften – die Arbeit abnahm. Damals lag Mallorca viel näher als Magdeburg, und außerdem konnte man das Paket an die Ostverwandten von der Steuer absetzen.
Und die Linke heute? Statt auf die sich ausbreitende Kapitalismusmüdigkeit mit einer intelligenten Kritik an der grassierenden Asozialität der deutschen Eliten als den Nutznießern der jetzigen Produktionsweise zu reagieren, tut sie seit der friedlichen Herbstrevolution so, als seien die westdeutschen Zustände der siebziger Jahre für ewig festgeschrieben. Damals schien selbst der »Stellungskrieg« einzuschlafen. Ihre Politik unterscheidet sich kaum von der, die einst die SPD-Linke praktizierte: da, mitunter sogar scharf formulierte, Kritik, hier Verteidigung einer einmal errungenen, heute aber längst nicht mehr haltbaren, Position, dort ein kleiner Entlastungsangriff – alles in der Hoffnung, in einer der nächsten Koalitionen doch noch als Mittäter zugelassen zu werden.
Das Stadion der siebziger Jahre, in dem all diese Spiele eine gewisse Berechtigung hatten, existiert aber längst nicht mehr. Denn die deutschen Eliten haben nach dem Fall der Mauer – nahezu geräuschlos – den Übergang zu einem Bewegungskrieg gegen den »Rest der Gesellschaft« vollzogen. Die deutsche Linke hingegen versucht immer noch, den ihr einst überlassenen Raum zu verteidigen, indem sie mit einem einsamen Fähnchen ganz mutig aus ihrem Schützengraben winkt.
Wessen Angebote bei den Kapitalismusmüden indessen ankommen, kann heute schon in der Uckermark, in Vorpommern und im Elbsandsteingebirge besichtigt werden. Dort »erwacht Deutschland«.