von Ulrike Krenzlin
Whitehall und Downing Street 10, Quai D’Orsay, Weißes Haus und Kreml sind Metonymien für Regierungszentren des Vereinigten Königreichs Großbritannien, Frankreichs, der USA und Russlands. Selbst die Hohe Pforte für das untergegangene Osmanische Reich hat allgemein noch Erkennungswert. Auch Deutschland, seine Regierungen und Institutionen, besaß ein solches Symbol: Die Wilhelmstraße. Doch nur bis 1945. Mit und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist „Die Wilhelmstraße“ verschwunden. Wer kennt sie heute noch? Niemand, außer Historikern. Wozu die Altreiche in Europa Jahrhunderte gebraucht haben, ihre bis heute glanzvollen Regierungs-Orte auszustatten, das gelang Preußen in rasanter Kürze.
Die Wilhelmstraße, vor 1740 Husarenstraße, ist eine Schöpfung von Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. Denn der Newcomer unter den Königen Europas musste seine Staatsbeamtenschaft aus dem Stand heraus ernennen. Für Residenzen stellte er ihr in den siebzehnhundertdreißiger Jahren diese Straße zur Verfügung. Sie verlief – mit ordentlichem Abstand zum Schloss – vom Brandenburger Tor aus Richtung Norden bis Reichstagsufer, Richtung Süden bis zum Exerzierplatz Hallesches Tor. Zweieinhalb Kilometer zog die Wilhelmstraße die Stadtmauer entlang.
1871 übernimmt Otto von Bismarck dieses Architekturensemble für seine Politik. Die Alte Reichskanzlei, das herrliche Barockpalais Radziwill von 1738, nutzt der Reichskanzler als Residenz mit Wohnung und Zentralbureau der Reichsregierung. Hier wird die Diplomatie Europas empfangen. Im Festsaal tagte die Berliner Konferenz. Die Weimarer Republik lehnt die Wilhelmstraße ab, findet aber zu gar keinem Regierungsstil. 1933 hält schließlich das NS-Regime die Wilhelmstraße für ihre Machtzentren geeignet, bald jedoch nicht mehr ausreichend. Mit Ausweitung seines Repressionsapparates werden Monumentalbauten in der Wilhelmstraße und auf dem Wilhelmplatz (heute Zietenplatz) in einer Größenordnung errichtet, die es in Europa noch nie gegeben hatte. Adolf Hitler gibt die Alte Reichskanzlei als „Führerwohnung“ und Arbeitssitz bald auf. Für Hitler werden 19 Parzellen zusammengeführt. Nach Albert Speers Plänen entsteht auf dem Gelände Ecke Wilhelmstraße/Voßstraße 1-19 die Neue Reichskanzlei. Grundriss und Baugestalt geben den maßlosen Herrschaftsanspruch klar zu erkennen. Immerhin haben die Schnellbauer dafür acht Jahre (1935-43) gebraucht. In einer Sonderausstellung der Berliner Stiftung „Topographie des Terrors“ bietet eine Medienstation die vollständige Rekonstruktion der Neuen Reichskanzlei. Der virtuelle Parcours durch Ehrenhof, Einfahrten, Hitlers Arbeitszimmer, Großen Empfangssaal, Mosaiksaal, Kabinettssitzungssaal, Speisesaal und so weiter wirkt schwindelerregend. Das Versailles von Ludwig XIV. ist nichts dagegen.
Über das NS-Regime erfahren wir immer mehr Details, kennen die Topographie des Terrors von Auschwitz bis Ravensbrück. Auch unser Wortschatz der Entrüstung über die Nazi-Verbrechen ist ausdifferenziert. Gerade deswegen wird umso klarer, dass uns in jedem Fall die Anschauung derjenigen Orte, Gebäude, Arbeitszimmer, der Schreibtische fehlt, die der Massenvernichtung von Menschen dienten. Auch die Bildnisse ihrer Federführer in Aktion, in enger Verbindung mit dem authentischen Ort, an dem sie ihre Terrorkonzepte entworfen haben, sind uns unbekannt geblieben. Damit rückt alles in eine merkwürdige Ferne. Diesen Mangel muss die Kuratorin Claudia Steur auf die Idee eines dreidimensionalen Nachbaus der Wilhelmstraße in der „Topografie des Terrors“ gebracht haben. Die Wilhelmstraße ist wieder da. Wie in einem Kulissen-Film ist die Straßenzeile im Abschnitt Unter den Linden bis zur Prinz-Albrecht-Straße (heute Niederkirchnerstraße) begehbar gemacht. Auf beiden Straßenseiten, einschließlich Wilhelmplatz, sind 19 Ministerien des NS-Regimes nachgebaut.
Nr. 72: Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Palais Prinz Alexander und Georg von Preußen. Hier wurden die Hungerpläne für die besetzten Gebiete ausgedacht mit der Folge von Millionen Toten. Nr. 73: das Reichspräsidentenpalais im alten Palais Schwerin. Nr. 47-76: Das Auswärtige Amt, bestehend aus den Palais’ Pannewitz und dem Kanzleramt des Norddeutschen Bundes, fällt durch seine barocke Behäbigkeit auf. Das Amt ist jedoch durch die Untersuchung der Historikerkommission „Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik“ jüngst ins Visier geraten. Deren erster Teil legt die Initiativen der Diplomatie im Dritten Reich offen. Die schuldhafte Verstrickung deutscher Diplomatie in ihrer Dokumentenbreite ist kaum zu fassen. Ich habe bis heute nicht gewusst, wo sich dieses Amt bis 1945 befunden hat. Ortloses Reden über das Auswärtige Amt geht nach diesen Enthüllungen nun nicht mehr. In der Ausstellung wird zum Amt unter anderem ein Großfoto von Ernst Freiherr von Weizsäcker gezeigt. Der Diplomat im Auswärtigen Amt spricht als Angeklagter im Nürnberger Wilhelmstraßenprozess mit seinem Sohn, Richard von Weizsäcker. Zum Foto gestellt ist das Zitat „Ich habe in dieser entsetzlichen und traurigen Judenfrage manche Dinge durch meine Hände gehen lassen müssen, auf höhere Weisung, die mir konträr waren […] grundsätzlich war ich nur Briefträger in diesen schauerlichen Angelegenheiten.“
Nr. 77: Die Alte Reichskanzlei, ehemals Palais Radziwill, machte Hitler 1934 zu seinem Amts- und Wohnsitz. Die „Führerwohnung“ war im Obergeschoß eingerichtet. Nr. 102: Das Prinz-Abrecht-Palais ist 1934 Sitz der Sicherheitsdienst (SD) der SS geworden. Hier entstand 1939 die Idee zum Überfall polnischer Soldaten auf den deutschen Sender Gleiwitz. Mit dem fingierten Überfall ist der Polenfeldzug von den Nationalsozialisten gerechtfertigt worden. Bald darauf wurde der SD in das neu eingerichtete Reichsicherheitshauptamt integriert, dessen Leitung Reinhard Heydrich übernahm. Er richtete sich in der Beletage des Palais ein formidables Büro ein. Die gesamte Prinz-Albrecht-Straße entlang bis hin zum Kunstgewerbemuseum (heute Martin-Gropius-Bau) werden in Gebäuden neueren Datums die berüchtigten Verhör- und Folterkeller ausgebaut. Vom Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ sind heute ihre Reste museal erschlossen. Im Bewusstsein dieses furchtbaren Kulturverfalls nach 1933 fällt es schwer, an die Ausgangspunkte des Palais’ Prinz Albrecht zu erinnern, das 1739 für den Hugenotten Matthieu Vernezobre de Laurieux errichtet, 1832 vom Preußen Prinz Albrecht gekauft und von Friedrich Schinkel im schönsten Klassizismus umgebaut wurde. Adolf Menzel hat den Charme des Palais’ in zwei herrlichen Varianten vom „Prinz-Albrecht-Palais“ mit den wackeligen Barockvasen auf der Balustrade, darunter duftige Sonnensegeln an den Fenstern ins Bild gesetzt. Im Park fläzen zwei Bauarbeiter auf der Wiese, haben ihre Schubkarre abgelegt wegen einer Mittagspause. In der Menzel-Literatur wird das peinliche Nachleben des Prinz-Albrecht-Palais in zwölf Jahren Nazizeit prinzipiell übergangen. Es erscheint dann so, als ob sich das Palais an einem herrlichen Ort im Niemandsland befunden hätte.
Die Vorarbeit zur Installation der Wilhelmstraße war gründlich, denn die Kuratorin hat Jahre zuvor bereits alle Ministerien im Flachbild wieder hergestellt: am authentischen Ort in der heutigen Wilhelmstraße aufgestellte Glasschautafeln im Stahlgerüst mit Fotos und Textbändern. Wo die Neue Reichskanzlei begann, an der Ecke Voßstraße, steht heute das Restaurant „Peking Ente“. Ein Lacher in Bezug auf den Ort. Auf der 2012 noch immer ruinösen Voßstraße hat die Neue Reichskanzlei gestanden. Die Vorstellung von der Ungeheuerlichkeit dieses Machtkomplexes wird insbesondere Schülern und Studenten von der Ausstellung erleichtert.
Dem Aufstieg der Wilhelmstraße war unfassbar schnell und gründlich ihr Untergang beschieden. Nicht nur ihr Erscheinungsbild verschwand 1945 in Ruinen. Ab 1950, mit Beschluss der DDR-Regierung zur Sprengung des Berliner Schlosses, werden auch die monströsen Ruinen in der Wilhelmstraße, auf dem Wilhelmplatz und in der Voßstraße gesprengt. Die letzte 1962. Übrig geblieben sind das eine und andere Verwaltungsgebäude und vor allem das neoklassizistischen Reichsluftfahrtministerium (heute Finanzministerium). Entstanden ist eine belanglose DDR-Neubauten-Straße, umbenannt in Otto-Grotewohl-Straße, der Wilhelmplatz hieß in der DDR Thälmann-Platz. Auch nach der Wende bereitete die Rückbenennung noch Probleme. Kurzfristig hieß die Wilhelmstraße „Straße der Nationen“. Die Wilhelmstraße ist gelöscht im kollektiven Gedächtnis der Generationen nach 1945. Dennoch, wir müssen sie zurückerinnern, weil wir ohne Kenntnis unserer Geschichte Zukunft nicht gestalten können.
Die Wilhelmstraße 1933-1945 – Aufstieg und Untergang des NS-Regierungsviertels, Ausstellung der Stiftung Topographie des Terrors, bis 25. November täglich 10 bis 20 Uhr, Eintritt frei, Katalog 12 Euro
Schlagwörter: Auswärtiges Amt, Reichssicherheitshauptamt, Topographie des Terrors, Ulrike Krenzlin, Wilhelmstraße