von Thomas Heubner
Sie waren die falschen Leute zur falschen Zeit am falschen Ort. Doch zu dieser Erkenntnis kamen Mandy und Busenfreundin Gabi erst, als sie mit ihren Göttergatten schon zwei Bier intus hatten. Vorher waren sie noch kollektiv begeistert gewesen vom Vorschlag, der Touristeninvasion am Boxhagener Platz zu entfliehen und das Wochenende im Nordkiez einzuläuten, in der kleinen Kneipe in der Schreinerstraße. Und das nicht erst mitternachts, sondern wegen der Sommerhitze bereits am späten Freitagnachmittag, was Mandy schlüssig mit „Wer früh ausgeht, ist früher lustig“ begründete.
Schon an der Ecke Samariter hätten sie stutzig werden müssen, als sie den Stau auf dem Bürgersteig sahen und sich durch ein Geschwader von Kinderwagen drängeln mussten, die Namen trugen wie Mountain Buggy Urban Jungle und Phil & Teds inline buggy explorer, aussahen wie die Bonsai-Variante des BMW X1 oder Audi Q5 und an deren Lenker meist ein grünes Bändchen flatterte als Zeichen für allein stehend und paarungswillig.
In der Kneipe, die von Reiseführern als „authentisch“ gerühmt und trotzdem von Eingeborenen heimgesucht wird, ergatterten die vier eine Bank im Freien, leider an der angrenzenden EU-genormten Spiellandschaft. So hatten sie die grau gelockten Muttis im Blick, die sich Dank einer postnatalen Hormonausschüttung vorgaukelten, sie wären erst zwanzig, und die mit ihren Kleinen gerade aus der Pekip-Gruppe kamen oder von der Fußreflexzonenmassage für Neugeborene. Obwohl man ihnen Übermüdung und fehlenden Sex ansah, lasen einige GalaKids, das neue Heft für Yummie Mummies, andere knabberten glutenfreie Dinkelkekse oder stifteten ihre Gören zum Engelmalen auf dem Gehwegpflaster an.
Ein paar Papis hatten sich auch dazugesellt, stilsicher im Businessanzug und mit Fahrradhelm, die meisten metrosexuell enthaart. Sie hatten sich auf das Projekt Kind eingelassen, obwohl sie in Altersteilzeit gehen würden, wenn ihre Sprösslinge das Abi machen. Deshalb klagten sie im Vati-Gespräch schon mal über Libidoverlust und Testosteronmangel.
Diese Platzhirsche und Platzhirschkühe waren erst vor kurzem aus solch aufregenden Orten wie Olpe, Elmshorn oder Reutlingen zugezogen und lebten nun ihre neu gewonnene urbane Freiheit auch auf dem Drachenspielplatz aus. Offensiv behaupteten sie ihr Revier und hatten schon mal soziale Duftmarken gesetzt: Die Papierkörbe quollen über von Pizzaschachteln, Coffee-to-go-Pappbechern, leeren Corona-Flaschen und Prosecco-Dosen sowie gebrauchten Windeln. Außerdem hatten sie Grönemeyer beim Wort genommen: Kinder an die Macht! Ihre Wunderkinder gründeten im Sandkasten Baugruppen und knüpften übers Babyfon soziale Netzwerke. Andere kleine Drachen trainierten die Kommunikation im Ultraschallbereich. Vertreter der Pampers-Mafia lebten randalierend ihre frühkindlichen Machtphantasien aus: Emily tobte, weil in ihrem Bananensaft kein Kirschsaft war; Fiona kreischte, weil sie von Klein-Linus mit der Schippe traktiert wurde; Samuel heulte, weil ihn Emily skalpieren wollte, was deren Mama an ihren bilingualen Bildungsauftrag erinnerte und „Be careful!“ schreien ließ. „Warum brüllen die Kinder so“, wollte Mandys Mann entnervt wissen, „sind die etwa verwundet?“ Aber Gabis Antwort blieb ihr im Hals stecken, weil sie sich die Nase zuhielt, da in ihrer Nähe gerade ein Dreijähriger gewindelt wurde.
Als die Mutter dann mit dem Inkontinenzbehälter in der Hand Zugang zur Kneipentoilette begehrte, wurde ihr dies vom Wirt – einer sympathischen Mischung aus Elvis Presley und Schwergewichtsboxer – verwehrt mit den Worten: „Nur für Gäste oder 50 Cent – oder willst du morgen das Klo putzen?“, worauf alle Gäste Beifall klatschten. Nur Mandy zeigte Mitgefühl für die junge Mutti: „Ach Ulli, lass‘ sie doch! Auch Engel müssen mal kacken!“
Schlagwörter: Projekt Kind, Thomas Heubner