Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 5. Februar 2007, Heft 3

Das Alternativ-Blatt

von Renate Hoffmann

Es müßte Zeitungen geben«, fordert Christian Morgenstern, »die immer das mitteilen, was nicht ist: Keine Cholera! Kein Krieg! … Keine Mißernte! Die tägliche Freude über die Abwesenheit großer Übel würde zweifellos die Menschen fröhlicher machen.«
Es läßt sich voraussehen, daß eine Ausrottung dieser Plagen beschwerlich sein wird. In der biblischen Apokalypse sprach man schon von ihnen, und wurde ihrer auch nicht Herr. Nun soll aber keiner in Schwermut fallen, oder gar unfroh durch die Zeiten wandeln, weil sein Lokalblatt ihn täglich mit Kübeln von Übeln überschüttet. Der von den Journalen bevorzugte Informationsfluß stellt nämlich eine negative Auslese dar.
Deshalb wäre – in Fortführung der Morgensternschen Idee – die Gründung einer Zeitschrift anzuraten, die überwiegend positive Vorkommnisse verbreitet. Den gewohnten systematischen Aufbau könnte ein solches Alternativ-Blatt übernehmen, lediglich die Inhalte würden ausgewechselt.
Anstelle von Tripelmord im Strandcafé lautet die Schlagzeile beispielsweise: Dreifach-Sieg am Wasser. Unterzeile: Aufgefischt – Abgetrocknet – Wiederbelebt. Dann folgt die Reportage über Oskar, den tollkühnen Knirps, dessen Weltumsegelungspläne bereits im Hafenbecken von Stralsund endeten. In der Außenpolitik wird von dem Fall berichtet, der sich in einem weit östlich gelegenen Provinzort zutrug. Verfeindete Gruppen verloren plötzlich die Lust am Kämpfen, gingen in eine Tschainaja und tranken Tee (oder Wodka).
Die Innenpolitik befaßt sich mit Themen wie: Soll der Bundestag vor Beginn seiner Sitzung ein gemeinsames Lied singen – welches? – und wieviel Strophen? (Singen trägt zur Harmonie bei und stimmt friedlich.) Im Feuilleton liest man, eine Theaterveranstaltung in B. sei vom Ensemble so gut dargeboten und im vollbesetzten Haus vom Publikum so gut aufgenommen worden, daß die Schauspieler beschlossen, die nächste Vorstellung für »Eintritt frei« zu spielen.
Auch der Sport findet gebührende Erwähnung. Als ein Spieler der Mannschaft A den Ball ins Tor der Mannschaft B schoß, entschuldigte sich der Torschütze nachträglich (der Torwart war nämlich sein Freund). Fans bekundeten zwar ihren Unmut darüber, beschränkten sich aber darauf, die beiden mit Bonbons und anderen Produkten der Süßwarenindustrie zu bewerfen.
Der Lokalteil des Alternativ-Blattes schreibt unter anderem über die beispiellose Rettungsaktion des beliebten Eckladens. Er stand vor der Schließung. Daraufhin boykottierten die Anwohner des Stadtviertels das Einkaufszentrum schräg gegenüber und strömten zum gefährdeten Ladengeschäft. Die Inhaber zeigten darüber große Rührung, und jeder Käufer erhielt gratis eine Currywurst mit Soße – oder wahlweise zwei Grünkernbratlinge. An derartigen Nachrichten besteht kein Mangel.
Was den Vertrieb des Blattes betrifft, so könnte man die erste Nummer als Ersatz der langweiligen Werbe-Wegwerfschriften in Tageszeitungen einlegen. Die Journale würden die gefährliche Konkurrenz sofort erkennen und den Neuzugang in alle Himmelsrichtungen verreißen. Und schon bekäme das Alternativ-Blatt regen Zuspruch.