von Erhard Crome
Es war wohl zu früh, daß etliche Marktschreier der Finanzbörsen, ökonomische Schriftsteller und forsche Politiker bereits das Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise verkündet hatten. Sie hat nur Atem geholt, um neuen Anlauf zu nehmen. Die Akkumulation von Kapital führt zu einem „Überfluß“ an Kapital und einem „Überfluß“ an Bevölkerung. Darauf hatte der Alte aus Trier schon im vorvorigen Jahrhundert hingewiesen. Die überflüssige Bevölkerung ist die, die zur Kapitalverwertung mehr oder weniger dauerhaft nicht mehr herangezogen werden kann. Damit befaßt sich dann der Staat, in Deutschland derzeit mit „Hartz IV“-Regimen und der höchstrichterlichen Festlegung, daß Geldgeschenke von Omas an kleine Kinder als Einkommen der arbeitslosen Mutter zu gelten haben und auf „Hartz IV“ gefälligst anzurechnen sind. Anderenorts gibt es zuweilen Generalstreiks, Betriebsbesetzungen und Emeuten, die entweder niedergeschlagen oder ausverhandelt werden, je nach Bewaffnungsgrad der Staatsmacht und Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Staat auf der einen und kujonierter Bevölkerung, ausgebeuteten Arbeitsleuten und hungernder Dorfarmut auf der anderen Seite. Geht die Krise tief genug, kann es auch tiefgreifende Einschnitte auf der Kapitalseite geben, wie vor zehn Jahren in Argentinien.
Die weltweite Finanzkrise der vergangenen Jahre galt als „systembedrohend“, das heißt alle Entscheidungsträger gingen davon aus, daß der „Überfluß“ an akkumuliertem Kapital in der Finanzsphäre zu einem tiefen wirtschaftlichen Einbruch führen würde, damit zu wachsender Arbeitslosigkeit, Steuerausfällen und politischen Unruhen. Die Politiker und ihre Berater schauten in die Geschichtsbücher, sahen die deutschen Nazis auf der einen und Hungerrevolten in den gloriosen USA auf der anderen Seite, und schnürten „Rettungspakete“. Die Kosten wurden in die öffentlichen Haushalte eingestellt. Obama versprach, sie bei den Banken, die da gerade gerettet worden waren, wieder einzutreiben, in Deutschland soll wohl die Bevölkerung darauf sitzen bleiben.
Das ist die Beschreibung der Phänomene. Die kennen eigentlich alle aufmerksamen Beobachter. Jetzt werden die deutschen Zeitungsleser mit „Griechenland“ beschäftigt: den Rentnern dort gehe es zu gut, die Staatsangestellten bekämen zu hohe Gehälter und nun bauen die auch noch eine Botschaft in Berlin, die Geld kostet. (Abgesehen davon, daß Botschaftsbauten immer zwischen dem entsendenden und dem akkreditierenden Land vereinbart werden, verdient eine solche Überschrift schon deshalb die Bezeichnung Volksverdummung, weil solche Bauten auch planerisch einen Vorlauf von mehreren Jahren haben, damit also begonnen wurde lange vor Ausbruch der jetzt in Rede stehenden Krise. Da erfüllt dann die Volksverdummung den Straftatbestand der Volksverhetzung.) Derlei plumpe Propaganda zielt vor allem darauf, die Hintergründe der Krise und deren Weiterungen zu verschleiern. Hier ist meines Erachtens vor allem auf drei Punkte zu verweisen.
Erstens müssen die Folgen der bisherigen Krisenbearbeitung der Herrschenden erneut in den Blick genommen werden. Schauen wir noch einmal auf den Mann aus Trier und die Krisentheorie. Die Krise hat innerhalb des Krisenzyklus der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung die Funktion, das überschüssige Kapital brachzulegen, nach Möglichkeit zu vernichten. Anders kann ein neuer Aufschwung nicht kommen. Zur Beschreibung einer solchen Krise heißt es dann, daß sie zunächst als Kreditkrise und Geldkrise aufbricht. Die Geldspekulation – im 19. Jahrhundert in Gestalt von Wechseln, heute von phantasievollen „Finanzprodukten“ – mündet in eine große Masse von Schwindelgeschäften, die jetzt offen zu Tage treten und platzen und auf die wirklichen Käufe und Verkäufe – heute sagt man: in der „Realwirtschaft“ – negativ zurückwirken. „Das ganze künstliche System gewaltsamer Ausdehnung des Reproduktionsprozesses kann natürlich nicht dadurch kuriert werden, daß nun etwa eine Bank, z.B. die Bank von England, in ihrem Papier allen Schwindlern das fehlende Kapital gibt und die sämtlichen entwerteten Waren zu ihrem alten Nominalwerten kauft.“ (Karl Marx, Kapital Bd. 3, bei MEW 25 S. 507.)
Mit der „Bankenrettung“ der vergangenen zwei Jahre ist aber genau das getan worden. Die „systemisch“ wichtigen Banken (nicht alle Banken) wurden gerettet, indem sie ihr überflüssiges Spekulationskapital nicht abwerten und ausbuchen mußten. Auch bei der jetzigen Griechenland-Debatte geht es in Deutschland zuvörderst darum, daß die deutschen Banken, die in Massen griechische Staatsanleihen gekauft und gut daran verdient haben, diese nicht abwerten müssen, was sie bei einer Umschuldung – wie im Falle Argentiniens – tun müßten. Dann drohe eine neue Bankenkrise, und die Bundesregierung müßte dann ohnehin „helfen“, hieß es, mit einer neuen „Bankenrettung“, und die würde noch teurer. Das Ergebnis ist, daß das Geldvermögen nicht abgewertet werden mußte. Das globale Geldvermögen lag vor etwa dreißig Jahren nur wenig höher, als das globale Bruttosozialprodukt; es betrug etwa zwölf Billionen Dollar im Vergleich zu etwa zehn. Heute ist es etwa viermal höher: 200 zu 50 Billionen Dollar. Um einen Realzins von einem Prozent auf das globale Geldvermögen zu zahlen, so zeigen Berechnungen, müssen vier Prozent des globalen Wirtschaftswachstums in die Taschen von Gläubigern umverteilt werden. Die Regierenden haben, anders als nach 1929, in der Krise politisch reagiert. Das Hauptergebnis aber ist, daß sie die Entwertung des überschüssigen Kapitals verhindert haben. Nachdem die Banken sich wieder berappelt haben, streben diese nun aggressiv nach neuen Opfern. Sie beißen jetzt in die Hände, die sie vor kurzem noch gefüttert haben. Und nachdem bei den überschuldeten Häuslebauern in den USA nichts mehr zu holen ist, wendet sich die Großspekulation nun einigen Ländern in der EU zu, zunächst Griechenland. Auf der längeren Liste stehen dann Portugal, Irland, Spanien und Italien.
Damit kommen wir zum zweiten Punkt: Warum die EU? Die Schwäche des Euro, auf die hier spekuliert wird, ist nicht eine realwirtschaftliche der EU im Vergleich zu den USA oder anderen großen Volkswirtschaften in der Welt, sondern eine institutionelle. Der Euro wurde als eine gemeinsame Währung geschaffen, hinter der aber nicht eine gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik steht. Dafür sind die einzelnen EU- bzw. Euro-Länder verantwortlich. Innerhalb der EU aber gibt es ein großes Ungleichgewicht: den Handelsüberschuß Deutschlands gegenüber fast allen anderen EU-Ländern. Bei selbständigen Währungen könnten die anderen darauf durch Abwertung reagieren; ihre Exporte würden billiger, die deutschen teurer, und damit würde das Gesamtgefüge zu einem Ausgleich tendieren. Das ist den anderen durch den Euro verwehrt. Sie haben die großen deutschen Importe durch Kredite finanziert, deren Zinsen jetzt im Steigen begriffen sind. Solange die EU nicht zu einer gemeinsamen Finanzpolitik kommt, die praktisch auf einen institutionalisierten „Haushaltsausgleich“ hinausläuft (innerhalb Deutschlands werden ja die unterschiedlichen Bilanzen der Bundesländer auch nicht gegeneinander bilanziert, sondern im Rahmen des Bundeshaushaltes ausgeglichen), bleibt der Euro in der jetzigen Konstruktion angreifbar. Und wenn die Dominosteine nach Griechenland weiter fallen, wird am Ende, so sagen etliche Prognosen, der Euro zusammenbrechen.
Dies jedoch, das der dritte Punkt, ist ja vielleicht eine nicht-erklärte, aber Absicht. Die von Obama geforderte drastische Steigerung der Exporte der USA-Realwirtschaft ist möglicherweise in einem „friedlichen“ Konkurrenzkampf gegen die EU und China nicht erreichbar. China ist nicht bereit, seine staatlich kontrollierten Abwehrmechanismen in der Geld- und Finanzpolitik aufzugeben und sitzt gegenüber den USA mit seinen nach wie vor riesigen Auslandsguthaben ohnehin am längeren Hebel. In diesem Dreieck ist die EU das schwächste Glied. Weitsichtige Beobachter wiesen schon in den 1990er Jahren darauf hin, daß der Euro die größte Herausforderung für die Rolle des US-Dollars als Leitwährung ist, die es seit 1945 gegeben hat, und daß die USA dies nicht auf die Dauer hinnehmen werden. Vielleicht stehen wir jetzt am Beginn eines weltwirtschaftlichen Titanenkampfes, den wir aber nicht als Beobachter genießen werden, weil wir seine Opfer sind.
Schlagwörter: Erhard Crome, Finanzkrise, Griechenland