Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 22. Dezember 2008, Heft 26

Erinnerungen gegen Ekelwetter

von Sarah Liebigt

Einen Urlaub lang in jedem Restaurant und jedem Café immer Limonade de Citron probieren, um alle Sorten durchzutesten. Und sich wie ein Schneekönig freuen, wenn die Bedienung nachfragt, ob man Sprite wolle oder Limonade, und man sie versteht und sagen kann: Nein, Limonade bitte. Und dann meistens die hausgemachte bekommt, mit Eiswürfeln in einer großen Glaskaraffe, die beschlägt in der Nachmittagshitze.
Einen Sommer später in jedem Café und jedem Restaurant immer nur Sirop de Menthe trinken, sich freuen auf das Glas mit drei Zentimetern giftgrüner dunkler Flüssigkeit und die Karaffe eiskalten Wassers. Und über die angeekelten Blicke der Eltern, wie man so etwas trinken kann. Wobei sie selber den Rosé oder den pastellfarbenen Pastis, der wie Hustensaft riecht, begrinsen, mit den Füßen aus den Sandalen schlüpfen und mit den Zehen Sand herumschieben und die immer heller werdenden Haarsträhnen bestaunen.
Lange Jahre später stehe ich im Wohnungsflur meiner Eltern und sehe auf das Foto, das meine Mutter und mich zeigt. Eine schmale Gasse, links und rechts turmhohe weiß gekalkte Wände und leuchtende Bougainvillea und über unseren Köpfen Wäscheleinen. Wir lächeln fröhlich in die Kamera, beide braun gebrannt.
Frankreichsommer sind voll von Sonne, Sommersprossen, unverständlichem Sprachgesumme, Sonnenbrand, Rotwein, Paella-Festen in winzigen Dörfern, Tomatensalaten mit Knoblauch und Olivenöl, Tretbootfahrten auf grünen Bergseen und Schlauchboot in windzerknautschten Buchten und auf quecksilberfarbenem spiegelglatten Meer.
Sind der Sommer, in dem es am Strand kiloweise Muscheln gab, die großen braunen, die von den Franzosen selbst gar nicht mehr gesammelt werden. Sind unzählige Mittagsstunden in Restaurants sur Mer, mit Miesmuscheln, Fischduft gebraten und ungebraten, sind scheintote weiße Pferde auf Wiesen zwischen Salzseen, gelbe Blumen, immer wieder neue Ferienhäuschen, sind ein verregneter Sommer in der Bretagne, in einem feuchten Steinhaus, das meiner Mutter Rückenschmerzen verursacht. Sind vor allem der allererste Sommer in Frankreich, in dem Franz mir seinen Gameboy nicht leihen wollte und die Supermario-Melodie auf ganz laut gestellt hat, in dem mein Bruder Eidechsen gefangen und ihnen die Schwänze abgezupft hat, in dem morgens in den Pantoffeln Kuschelraupen saßen und ich abends zum ersten und zum bisher einzigen Mal Glühwürmchen gesehen habe.
In dem draußen auf dem Mäuerchen aus Feldsteinen ein grünblaues Tier saß, das aussah wie ein Tyrannosaurus Rex in Miniaturform und keiner von den Großen hat mir geglaubt. In dem es frischen Fisch gab, dessen Schwimmblase zum Trocknen über dem Kaminfeuer hing. In dem ich auf einem Bett mit mindestens fünf Matratzen geschlafen habe, in einem Zimmer mit winzigem Fenster und riesigem Bauernschrank. In dem Haus mit kleiner Küche und großer Halle, in welcher Holzbänke und Holztisch stehen, vor einem riesigen offenen Kamin.
Ach, ich könnte stundenlang schwelgen in den Bildern von Burgen und Stränden und dem ewigen Überlandgefahre von einer Weinverkostung zur anderen, wie mein Vater deguster? fragt, lächelt und meine Eltern den zigsten Rotwein probieren. Wie mein Bruder den Muskatwein ganz toll findet und viel brauner wird als ich, und wie ich nach den ersten Jahren Französischunterricht mich in den Laden traue und Est-ce que vous avez une pompe pour un bateau pneumatique? frage, die Verkäuferin meine Aussprache offensichtlich wunderbar findet und drauflosplappert und ich nur pas trop vite s’il vous plais stottern kann.
Oder, in dem Jahr, als wir noch den tundragrünen Renault hatten, in einen Auffahrunfall gerieten und ich zum Weingut an der Landstraße laufen und nach einem dünnen Seil fragen mußte, mit welchem man den Kofferraum schließen kann. Ich habe keinen blassen Schimmer was Kofferraum auf Französisch heißt, kann nur erklären, daß wir einen Unfall hatten und frage schließlich, ob jemand englisch spricht.
Merci.