von Walter-Thomas Heyn
»Die Menschen werden immer dümmer« sagte mein alter Professor in Leipzig gern und recht häufig. Er meinte aber nicht uns Musikstudenten, nein, er meinte die Bewohner der ganzen Welt und leitete dieses Phänomen aus einer, aus seiner Steiner-Philosophie her. Steiner, der große Baumeister der Anthroposophie, lehrte in des Professors Lesart, daß der Geist immer konstant, das heißt, in gleich großer Menge vorhanden sei. Bleibt die Menge der Menschen ebenso konstant, ist alles gut: kluge, mittelmäßige und doofe Wesenheiten in ausgeglichenem Verhältnis. Die Schlauen vollenden ihr Dasein auf der Erde beim ersten Male und werden höhere Wesen. Die Mittelmäßigen müssen in anderer Gestalt wieder runter ins irdische Jammertal.
Nun ist er sehr alt, und ich bin alt. Und ich beginne zu glauben, daß er recht hat. Denn die öffentlichen und privaten Dummheiten, auf die man allenthalben stößt, sind kaum noch zu ertragen. Neulich schrieb mir meine Bank: Betrüger sind im Spiel, Ihre (meine) Geldkarte wurde zur Sicherheit eingezogen. Um Mithilfe wird gebeten. Da ich an einem Geldautomaten in Kreuzberg Ecke Kreuzbergstraße etwas Verdächtiges bemerkt hatte, fuhr ich dahin, fotografierte den Apparat sowie die deutlich sichtbaren Spuren der Manipulation, schickte die Fotos per Mail an die Bank (… bezugnehmend auf Ihr Schreiben vom …) und war stolz auf mich. Ich bekam mailwendend drei Antworten. 1) »Der Geldautomat gehört nicht unserer Bank.« Das ist auf den Fotos auch deutlich zu sehen. Darum geht es schlicht gar nicht. 2) »Wir lehnen Ihre Schadensersatzansprüche ab.« Dabei hatte ich keinen Schaden, also auch keine Ansprüche. 3) »Bitte wenden Sie sich an den Betreiber oder die örtliche Polizei«. Ich rufe an und teile mit, daß ich der Bank helfen wollte, weil Betrügern man doch das Handwerk legen müßte. Die Antwort lautet: »Helfen, wieso? Das macht unsere Rechtsabteilung.« Und genau die hatte den Brief geschrieben: um Mithilfe wird gebeten.
»Warum haben Sie im März 1945 ihre Ausbildung nicht beendet?« wurde einer meiner Kollegen neulich von der BfA befragt. Krieg, was ist das? In den Verwaltungsvorschriften steht davon offenbar nichts. »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« (Immanuel Kant)
Einer meiner Kollegen ist Verwaltungswissenschaftler, er macht sich seit Jahren den Spaß, jeden Steuerbescheid, jede Kita-Gebühr, jede Mietnebenkostenabrechnung nachzurechnen. Er kennt die Gesetze und Tabellen, und er ist ein deutscher Beamter, das heißt, er würde um einen Cent bis vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Jeder Bescheid, sagt er immer beim Bier, ist falsch, und zwar wirklich jeder. Mancher grob daneben, mancher weniger grob, manche fast richtig, aber alle haben Fehler, und die gehen immer zu Lasten der Bürger. Seine Widersprüche werden aber weder gelesen noch bearbeitet, sondern er bekommt Mahnungen, dann Drohungen, schließlich Post von Inkasso-Firmen. Er gewinnt immer, aber er hat keine Freizeit mehr. Neulich erwischte ich ihn, wie er einen Bescheid des Kita-Amtes bezahlte. Einen falschen Bescheid! Er war müde geworden und teilte mir die Quintessenz seiner Kämpfe mit: Niemand liest, was ein anderer geschrieben hat. Niemand gibt sich die Mühe zu verstehen, was der andere meinen könnte. Niemand kann einer sachlichen Argumentation folgen.
Zusatzregel: Die Dümmsten sitzen oben. »Das Menschenpack fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstande; vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen was fürchterlicher ist; aber jener ist unbequem und man muß ihn beiseite schaffen, dieser ist nur verderblich, und das kann man abwarten« (Johann Wolfgang Goethe).
»Woher wollen Sie wissen«, sagt ein Experte bei Maischberger, »daß Herr Steinbrück klüger ist als Herr Ackermann?«. Das ist wirklich eine gute Frage. Früher gab es Fürsorge. Heute ist zum Beispiel die Verteilung von Hartz IV nach 19 (!) verschiedenen Gesetzesvorlagen nicht nur eine Wissenschaft, sondern ein Verwaltungsakt, von dem viele leben können.
Jeder Antrag an die Krankenkasse ist ein Machtkampf, jeder Steuerbescheid eine Kriegserklärung, jeder Behördenbrief kann existenzbedrohende Inhalte enthalten. Hinter jedem dieser Vorgänge sitzt ein Vertreter des Repressions- und Bevormundungsapparates, Kafkas Schloß und sein Prozeß werden in jeder Behörde beinahe täglich aufgeführt, mal als Tragödie, mal als Farce, wer am Flughafen schon einmal eine Flasche Mineralwasser (Flüssigkeit!) abgeben mußte, weiß, was ich meine; von der Gängelung der Autofahrer und der Raucher zu schweigen. Bald werden die Dicken dran sein. Frohes Fest.
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