Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 8. Dezember 2008, Heft 25

Malerisches Diarium

von Renate Hoffmann

Tagebuch zu führen, scheint aus der Mode gekommen. Als es noch in Mode war, wußte man um die Vorteile. Es erfordert zwar ein tägliches resümieren, hilft aber der Erinnerung auf. Läßt über begangene Torheiten lächeln, um schmerzhaft Erfahrenes trauern. An Wert gewinnt das intime Dokument, wenn es zusätzlich bebildert wird. Eine solche Kostbarkeit besitzt das Dresdner Kupferstich-Kabinett und stellt sie in einer Edition vor.
Zwei kunstsinnige Brüder – August und Moritz Retzsch – legten das Tagebuch an und führten es gewissenhaft in den Jahren von 1795 bis 1809. Beide besuchten die Akademie der Künste in Dresden und pflegten gute Bekanntschaft mit Caspar David Friedrich. August Retzsch (1777 bis 1835) studierte Landschaftsmalerei. Moritz Retzsch (1779-1857) indessen entschied sich für die Historienmalerei. Als Illustrator besaß er späterhin hohes Ansehen.
Der Zeitraum des Tagebuchs läßt ahnen, daß darin Kindheits- und Jugenderlebnisse der Brüder Retzsch zu finden sind. Eingebettet in eine kleine Welt, die sich in Wald, Wiesen, Weinbergen, Höhen und Tälern der Lößnitz (bei Dresden) auftut. Texte und Bilder beschreiben in erfrischender Unbefangenheit die Ereignisse. Sie erzählen von übermütigen Spielen, kleinen Katastrophen, Ungemach, von Ausflügen in die Natur. Man begleitet die jungen Leute durch die Weinberge, erlebt sie beim Feiern und bei der Arbeit; und sie erlauben auch einen Blick in ihre Gefühlswelt (Moritz Retzsch liebt Christel Miersch und sagt ihr das. Er: verlegen; Sie: errötend).
Zum besseren Verständnis werden vom Herausgeber die Hauptpersonen namentlich und im Bilde – entnommen als Ausschnitte der einzelnen Szenen – vorgestellt. Nunmehr begegnet man den Figuren im Buch wie vertrauten Bekannten. Eine hinzugefügte Landkarte (um 1800) zeigt die Örtlichkeiten des Geschehens.
Seite um Seite genießt man die Weinbergs-Scenen, aus dem Leben der beiden Brüder August und Moritz Retzsch, von ihnen selbst gemalt vom Jahre 1795 an … als einen heiteren bunten Gesang. Beim Betrachten der Bilder drängten sich mir unwillkürlich Verse auf; in ähnlich unbekümmerter Weise.
SZENE 6: In den Weinbergen. Die Lese ist längst beendet. Heinrich Schmidt, Moritz und August feuern eine Kanone ab (mit der man vor der Lese die Vögel vertreibt). »Hier wird gezündelt zum Vergnügen! / man sieht nicht einen Vogel fliegen!«
SZENE 7: Drei Männer und eine Frau stehen auf der Hochebene in Betrachtung der weiten Landschaft. »Mit Goethen schwärmt in schöner Gegend / der Moritz, Maigedanken hegend: / ›Wie herrlich leuchtet / Mir die Natur! … Wie lacht die Flur!‹ / Amalie meint, nach guter Weile: / Da fehlt ‘ne Zeile!«
SZENE 15: Wiesen, Haus und Bäume sind von Wasser umspült. Einige Personen waten in den Fluten. »Seht doch, welch gräßlich Ungemach! / Es hat der Serkowitzer Bach / sehr rücksichtslos und ungehemmt / die Ländereien überschwemmt. / August Retzsch blickt aufs Gewässer, / Regine Schön wird immer nässer.« SZENE 42: (Beschreibung überflüssig) »Drei Mädchen haben, ganz gerissen, / drei Hüte auf den Baum geschmissen. / Drei Knaben stehen ratlos drunter: / Wie kriegen wir die wieder runter?!«
SZENE 60: Abenddämmerung. Auf einer Anhöhe lassen die Brüder und ihre Freunde einen kleinen rotweißgestreiften Ballon steigen. Flammen schlagen heraus. Irgendwie stimmte wohl die Konstruktion nicht. »In den letzten Strahl der Sonne / steigt ein Ballon, o welche Wonne. / Doch plötzlich gibt es einen Puff, / und er geht in Flammen uff. / Er sinkt herab in aller Stille / als abgeschlaffte, matte Hülle. / Die Gesellschaft starrt nach oben./ Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben.«
Insgesamt neunzig Szenen enthält das Tagebuch. Ausgeführt in detaillierter, feiner Manier – und zu Vergnügen und Erbauung empfohlen.

Bilder einer Kindheit. Das malerische Tagebuch der Brüder Retzsch 1795 bis 1809. Für das Dresdner Kupferstich-Kabinett herausgegeben von Herrmann Zschoche, Verlag der Kunst Husum 2007, 17,95 Euro