Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 29. September 2008, Heft 20

Flanieren in Rouen

von Renate Hoffmann

Mag er das erste Wort haben, der Meisternovellist Guy de Maupassant: Von Canteleu aus »hat man einen der herrlichsten Rundblicke … Hinter uns Rouen, die Stadt der unzähligen Kirchen mit ihren gotischen Türmen, die aussehen, als wären sie alle fein und zierlich aus Elfenbein geschnitzt … Vor uns die Seine, wie sie dahinströmt in ihrem vielgeschlängelten Lauf, voll von Inseln«.
Rouen liegt vor mir, die vom Strom geteilte Stadt der Normandie. Man fährt zu ihr hinunter, wenn man, von Paris kommend, den Weg über Vernon und die Höhen wählt. Hundert Kirchtürme habe sie, schreibt Victor Hugo. Die Türmchen und schmückenden Fialen mitgezählt, sind es noch weitaus mehr. Der Vierungsturm der Kathedrale Notre-Dame beherrscht sie alle, beherrscht die Stadt und das Tal. Gleich einem grazilen, feindurchbrochenen, auf Spannung gesetzten Pfeil hebt er sich über die Dächer. Und ist – bei aller Gotik um ihn herum – aus Gußeisen. Verlegt man den Baubeginn der jetzigen Kirche in das 12. Jahrhundert, so geschah der eiserne I-Tupf im Jahre 1830. Gustave Flaubert empörte sich über den Turmaufsatz und meinte, es sei wohl »der überspannte Versuch irgendeines Blechschmieds.«
Auf dem großen freien Kathedralplatz balgen sich Hunde, spielen Kinder Fußball, schlendern Paare. Wie verloren stehe ich unter ihnen, gebannt von Dimension und Pracht des Sakralbaues, zu dem ich hinaufstaune. Zu Stein erstarrte Spitze, zerbrechlich-gewaltig, so erscheint er mir. Inmitten prunkt die spätgotische Fensterrose, umschlossen von zartem Zierat. Galerien, Figuren, Fabelwesen, florales Schmuckwerk.
Zwei Türme begleiten als ungleiches Paar die Schauseite. Wuchtig, in klaren Linien aufstrebend – der Turm Saint-Romain; in feinste Flamboyant-Kunst gehüllt, deren lodernde Ornamentik das Auge verwirrt – der Butterturm.
Monet, der Maler des Impressionismus, studierte die Kathedrale von Rouen wie ein Buch, erfaßte Licht auf Stein und malte sie. Achtundzwanzigmal. In der Morgensonne; Am späten Nachmittag: Bei trübem Wetter …
In der Großartigkeit der Szenerie verbergen sich auch Witz und Ironie. Am Seitenportal der Buchhändler erzählen Medaillons biblische Geschichten und Fabeln. In einem der Vierpässe hockt ein Schwein; leger gewandet, den Kopf in den Hand! gestützt – und sinniert. Die zugehörige Parabel heißt: Das Schwein als Philosoph …
Der sich anschließende Bischofspalast in der Rue Saint-Romain dräut mit hohen Mauern und Düsternis. Zwei Tafeln künden vom Jahrtausendereignis der Stadt. Am 29. Mai 1431 verhängte man hier das Todesurteil über Jeanne d’Arc, genannt die Jungfrau von Orléans; der Ketzerei für schuldig befunden und nachgewiesen in zwölf von siebenundsechzig Anklagepunkten. Im Juli 1456 erklärte die Kirche am selben Ort das Urteil als nicht rechtens und rehabilitierte Jeanne. 1920 wurde sie heiliggesprochen. Von der Ketzerin zur Heiligen – ein beachtlicher Salto mortale.
Durch sanftes Plätschern aufgedrängt und abgelenkt von der überaus kunstvollen Außenfront der Kirche Saint-Maclou hat mich der Brunnen »aux enfants pisseurs.« Zwei Knaben stehen an der Ecke der Westfassade – unbeeindruckt von der Schönheit der fünf Portalvorbauten nebenan – und entlassen ihren Strahl in die Rue Martainville. Diskret fängt eine Schale die Flüssigkeit auf. Diese Entleerung geschieht ohne Unterlaß seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Das bedeutet, Rouen überflügelt mit seinen »pisseurs« Brüssel in jeder Beziehung.
Stadt der Kirchen, der Künstler und Literaten (Pierre Corneille, seinen Denkmalen begegne ich allenthalben; André Maurois ging hier zur Schule; André Gide galt als Gernbesucher von Rouen), und Stadt des normannischen Fachwerks. Liebevoll restauriert, manches Mal beängstigend schief und die Wände vorgewölbt wie wohlsituierte Bäuche, aber die Häuser stehen! Kleine Läden beleben die Gassen; Cafés, dicht bei dicht, Tische und Stühle im Freien. Vor dem La Rose nehme ich Platz und sitze in Wirklichkeit bereits im Areal von Chez Gustave.
Auf dem Platz Vieux-Marché ist Markt. Gerüche und Düfte lagern zwischen den überdachten Ständen. Von Käsestand zu Käsestand koste ich die Probierhäppchen – und kaufe am Ende einen Strauß bunter Astern. Touristengruppen füllen die Straßenrestaurants. Ein Karussell klingelt. Der Platz trägt zwei Kirchen. Von der einen, Saint-Sauveur, ragen nur noch die Grundmauern, auf denen sich junge Leute sonnen. Die andere, Sainte-Jeanne-d’Arc, im 20. Jahrhundert erbaut, ehrt das Mädchen aus Domrémy in Lothringen, das auf dem Alten Markt den Flammentod starb.
In einem leicht ansteigenden Rondell neben dem modernen Kirchenbau (ähnlich einem gekenterten Schiff) sind die Stellen von Scheiterhaufen und Pranger freigelegt und markiert. Ich stehe mit Schauder. Ein hochragendes Kreuz erinnert an die letzten Lebensminuten der Verurteilten. In höchster Not verlangte sie nach einem Kreuz, das ihr Pater Isambart de la Pierre aus der Kirche Saint-Sauveur brachte. Jeannes Skulptur, die gefesselten Hände erhoben, im Schrei erstarrt, im Feuer vergehend – mahnt. Den Asternstrauß lege ich bei ihr nieder.
Aus den Dokumenten der beiden Schauprozesse im Frühjahr 1431 und den Rehabilitationsakten sind Johannas Leben und Taten bekannt. Im Musée Jeanne-d’Arc am Vieux-Marché hole ich mir nähere Auskünfte.
In die Zeit des Hundertjährigen Krieges zwischen Frankreich und England hineingeboren, glaubte Jeanne göttliche Erscheinungen zu sehen und Stimmen zu hören. Vor dem Inquisitionsgericht sagte sie später aus, es wären Rufe gewesen, die tief in ihre Seele drangen. Der Dauphin (ab 1429 Karl VII. von Frankreich) verlor Schlachten und Land. Engländer belagerten die Stadt Orléans, einen wichtigen Stützpunkt an der Loire. Das Mädchen aus Domrémy, damals etwa siebzehn Jahre alt, erklärte, einen göttlichen Befehl erhalten zu haben. Protokoll: »Die Stimme sagte mir, daß ich die Belagerung von Orléans aufheben solle.« Sie verließ den elterlichen Hof, legte Männerkleidung an und kürzte ihr Haar.
Es gelang ihr, in Chinon bis zum Dauphin vorzudringen und Karl von ihrer Sendung zu überzeugen. Er würde in Reims gekrönt, prophezeite sie. Jeanne sprach mit ihm allein. Die Richter fragten sie, was sie dem König mitgeteilt habe. Mutig antwortete sie: »Es geht das Gericht nichts an. Es ist zwischen mir und unserem Herrn.«
Man übergab der jungen Frau eine kleine Armee, mit der sie tatsächlich die Stadt befreite. Fortan Jungfrau von Orléans geheißen, sagte man ihr organisatorisches und strategisches Talent nach. Sie verstand es, auch durch tapferes Beispiel, die Soldaten zu begeistern. Mehrfach erlitt Johanna Verwundungen. Am 17. Juli 1429 vollzog der Erzbischof von Reims Karls Krönung. Unter Teilnahme Jeanne d’Arcs räumten die französischen Truppen den Mittellauf der Loire von der englischen Besatzung.
1430 versuchte die »Jungfrau« der eingeschlossenen Stadt Compiègne beizustehen. Am 23. Mai wagte sie einen Ausfall. Die Soldaten wichen jedoch vor dem übermächtigen Feind zurück. Man schloß die Tore.
Jeanne war der Weg in die Stadt versperrt. Ob Mißgeschick oder Absicht, die Situation blieb ungeklärt. Sie geriet in Gefangenschaft der mit den Engländern verbündeten Burgunder. Gegen ein Lösegeld von 10000 Franken überstellte man sie an die Besatzungsmacht. Und im Dezember 1430 kam Jeanne nach Rouen, dem Hauptsitz der englisch verwalteten Normandie. In den nachfolgenden Prozessen verteidigte sich die »Kriegsgefangene« klug und geistesgegenwärtig. Doch nun, als gefährliche Unruhestifterin nicht erwünscht, war ihr Urteil vorbestimmt.
Nachdenklich und betroffen verlasse ich das informationsträchtige Haus. Draußen auf dem Alten Markt tröste ich mich mit einer Tüte Tränen der Jeanne d’Arc. Es sind von Nougat überzogenen Mandeln.