Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 1. September 2008, Heft 18

Pittore miracoloso

von Klaus Hammer

Sebastiano Luciani (1485–1547) ist heute unter dem Namen Sebastiano del Piombo bekannt, weil ihm 1531 das angesehene, aber mit wenig Arbeitsaufwand verbundene Amt des päpstlichen Siegelverwalters (piom-batore) übertragen worden war. Während seiner Tätigkeit in der Geburtsstadt Venedig erwies er sich als Erbe der malerischen Qualität Giovanni Bellinis und seines Lehrers Giorgione. Nach seiner Übersiedlung nach Rom 1511, berufen durch den Bankier Agostino Chigi, befand er sich im Wettstreit mit Raffael und dessen Schule – hier trafen venezianische und römische Kunst aufeinander. Doch wurde er von Michelangelo gefördert und in dessen Projekte mit einbezogen. Michelangelo stellte ihm vor allem Zeichnungen als Vorlage zur Verfügung, wenngleich auch Sebastiano in seinen Werken eigene charakteristische Ausdrucksformen entwickelte.
Nach dem Tod Raffaels (1520) und noch vor dem Aufstieg Tizians sollte Sebastiano zum gefragtesten Porträtmaler in Rom avancieren. Sein erhabener, feierlicher Stil ist immer an dem Raffaels und Michelangelos gemessen worden.
Es hat immer wieder in jüngster Zeit Ausstellungen zu Raffael und Michelangelo, Tizian oder Giorgione gegeben, Sebastiano kannte man dagegen weitgehend nur dem Namen nach. Nach den intensiven Forschungs- und Restaurierungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte sowie dank naturwissenschaftlicher Untersuchungen kann jetzt die Gemäldegalerie Berlin eine Wiederentdeckung dieses pittore miracoloso – so nannten ihn schon die Zeitgenossen – für sich verbuchen. »Raffaels Grazie – Michelangelos Furor« lautet der Titel der ersten umfassenden Sebastiano-Retrospektive in der Gemäldegalerie am Kulturforum, die selbst eine hervorragende Sammlung von Bildern der italienischen Renaissance besitzt und in der sich auch zwei Hauptwerke Sebastianos, die »Ceres«, die römische Göttin des Ackerbaus, hier wohl eine Allegorie des Sommers, und das »Bildnis einer jungen Römerin (Dorothea)« befinden. Weitere Bildnisse, religiöse und mythologische Darstellungen, Altar- und Historienbilder, Zeichnungen und Vorstudien zu Wandbildern oder Werken, die an ihren Ort gebunden sind, kamen aus europäischen Sammlungen, aber auch aus Übersee.
Die monographische Ausstellung war zuvor schon in Rom gezeigt worden. Einige der dort präsentierten Gemälde und Zeichnungen sind nicht in Berlin zu sehen, andere Werke sind hier hinzugekommen. Durch Leuchtkästen sind einige Schlüsselwerke ersetzt worden, die nicht den Weg nach Berlin antreten konnten, so das berühmte Altarbild »Auferweckung des Lazarus«, das die biblische Figur zum ersten Mal als nackten Menschen darstellt.
Es war wohl Michelangelo, der den Auftraggeber, Kardinal Giulio de’ Medici, veranlaßte, neben Raffaels »Transfiguration« (um 1516-1520) noch ein zweites Altarbild für seinen Erzbischofssitz Sainte Juste in Narbonne in Auftrag zu geben und damit Sebastiano zu betrauen, was diesem die Möglichkeit bot, sich auf indirekte Weise mit Raffael zu messen. Beide Bilder fanden dann zusammen im Vatikan Aufstellung.
Was Sebastiano in Venedig lernte, war eine neue Art des Sehens, ein System, die Malfläche aufzuteilen, Proportionen und Formen anzulegen. Zwischen der von Bellini erlernten Festigkeit der Volumen, der modernen Art der Inkarnatwiedergabe bei Giorgione – er brachte die Pelze und Stoffe zum Schimmern – und seiner eigenen Neigung zur monumentalen Größe balancierend, verkörperte er in den Jahren bis etwa 1510 den Typus eines Malers, der im »große Stil« zu arbeiten vermochte.
Das vielleicht berühmteste Werk Sebastianos, die »Pietà« (1513-16) von Viterbo, die wohl auf einer Entwurfszeichnung Michelangelos beruht, gilt als das erste römische Altarbild, in dem das religiöse Sujet als Nachtdarstellung gezeigt wurde.
Hier ist eine harmonische Verschmelzung der malerischen Landschaft mit den mächtigen, erhabenen Figuren in ihrer tragischen, absoluten Isoliertheit gelungen. Die skulpturenartige Figur Marias sitzt in der ausdrucksvollen Geste der zum Gebet gefalteten Hände vor dem auf dem Grabtuch ausgestreckt liegenden, ganz im weichen Inkarnat gehaltenen Christuskörper. Die feierlichen, majestätischen Figuren leben in einem eigenen übernatürlichen Licht und sind nach einem streng geometrischen Pyramidenschema geordnet, das eben diese Isolierung, Trostlosigkeit und Verlassenheit evoziert.
Die tatsächliche körperliche Präsenz in einer gewissen Feierlichkeit wiederzugeben, sah der Porträtist Sebastiano als seine Herausforderung an, durch die Betonung der Volumen wollte er seinem Stil die Werte der Skulptur verleihen. Seine Figuren erscheinen wie gemeißelt, sie erstrecken sich fast über den Bildrand hinaus und wirken in den faltenreichen Gewändern noch größer, durch beredte Gesten noch dynamischer und dramatischer, während die Palette der Farben angemessen schlicht gehalten ist. Sebastianos körperbewußte bella donna, das Berliner Idealbild einer jungen Frau, auf das Raffael dann mit seinem Aktbild »Fornarina« antwortete, schaut den Betrachter mit offenem Blick an – sie verführt den Betrachter und entzieht sich ihm zugleich tugendhaft. Der Maler spielt im Berliner Liebesbild mit der Ambivalenz von Nähe und Unerreichbarkeit.
Nach 1527 – das hängt wohl mit der Plünderung Roms zusammen, die Sebastiano als Flüchtling in der Engelsburg erlebte – sind seine Werke Ausdruck existentiellen Zweifels an den tragischen Bedingungen des Lebens. Er verschloß sich in einer neuen Innerlichkeit, er kürzte und vereinfachte, bis er in seinem Versuch, das Unsagbare zu sagen, eine ans Hoffnungslose grenzende Wesentlichkeit erreicht hatte.
Sebastiano hat nie den einen großen Auftrag für ein epochemachendes Kunstwerk bekommen wie Michelangelo für die Sixtinische Kapelle, Raffael für die Vatikanischen Stanzen oder Leonardo da Vinci mit dem »Abendmahl«. Er war nicht der Künstler der Päpste wie Michelangelo und Raffael. Aber der Vergleich mit diesen beiden Genies kann durchaus gesucht und angestellt werden. Eindringlich und überzeugend beweist diese Ausstellung, daß sich Sebastiano mit vollem Recht zu den Großen nicht nur des Cinquecento – des 16. Jahrhunderts – rechnen darf.

Raffaels Grazie – Michelangelos Furor: Sebastiano del Piombo, Gemäldegalerie Berlin, Kulturforum, Potsdamer Platz, dienstags bis sonntags 10-18 Uhr, donnerstags bis 22 Uhr, bis 28. September, Katalog 38 Euro