von Renate Hoffmann
Wäre es Goethe gewesen, es hätte mich nicht überrascht, ihm hier zu begegnen. Aber Turner, Joseph Mallord William, dem Maler … ? Unterwegs und flussaufwärts im schönen, von Felsen geformten Tal der Nahe. An einem tauigen Morgen. Pulmonal gestärkt durch den Gang zwischen dem Getröpfel der Gradierwerke im Bad Kreuznacher Salinenpark. Kindergrüppchen versuchen vergeblich den gesitteten Kurschritt auf den Wegen einzuhalten. Ein älterer Herr fährt den Pudel Bibi im Sportwagen am Ufer spazieren (Strenges Hundeverbot!)
Die Parklandschaft begleitet den Fluss. Ebenso der „Nachtigallenweg“. Er verdient den Namen. Es ist ein einziges Schluchzen, Zirpen, Dudeln, Fiepen, Trällern in der morgendlichen Frische. Die Nahe eilt. Sie rauscht über flaches Gestein oder strömt ruhig in dunklen Tiefen.
Bei Münster am Stein-Ebernburg türmen sich die Felsen höher und höher. Bedrängen den Fluss. Er stemmt sich dagegen, gibt in einem Bogen nach und weitet die Sicht. Das Flachwasser spiegelt die Sonne. Als verlange das gleißende Licht nach einem Kontrast, erhebt sich kulissenhaft und hoch aufragend ein dunkler Porphyrfelsen. Der Rheingrafenstein, gekrönt von der trutzigen Burgruine. Durch ihre Fenster sieht der Himmel. Das Schauspiel ist grandios.
Vertieft in die dramatische Szene, hätte ich beinahe eine Tafel übersehen: „TURNER-BLICK. Joseph M. William Turner, 23. April 1775 London – 19. Dezember 1851 Chelsea, London. Von diesem Standpunkt aus hat William Turner seine Skizze zum nebenstehenden Aquarell ‚Rheingrafenstein’ angefertigt …“
Der Blick wandert vom „nebenstehenden Aquarell“ zum Motiv und zurück. – Wasser und Gestein liegen im gelbbraunen lodernden Farbwirbel. In hellem Blaugrau, gleich einem Kontrapunkt, wächst der Rheingrafenstein empor. Flüchtige Pinselstriche deuten den Himmel an und lassen irgendwo Zirruswolken ahnen. Die alte Wehrkirche von Ebernburg, die vom Turnerschen Standort aus eigentlich nicht zu sehen ist, und Franz von Sickingens Kastell auf dem Schlossberg sind skizzenhaft ins Bild eingebracht. Wechselnde Farben in flutendem Licht. Bewegtes Wasser, bewegte Luft. Man spürt die Durchsichtigkeit eines klaren, leicht windigen Tages.
Turners Kunst und Wirken erhalten höchste Anerkennung. Jedoch nicht gleich und sofort, zumindest nicht auf dem Festland. Theodor Fontane bespricht eine Retrospektive des Malers in London zurückhaltend (1857): Turner sei „auf dem Continente außer bei den Kunstverwandten kaum dem Namen nach gekannt …“ Er habe „nur localen Ruhm, aber an Ort und Stelle ist es ein ganzer und unbestrittener Ruhm.“
Seine Motivwahl, getrieben von Wissbegier und dem Reiz des Augenblicks, ist vielgestaltig. Seestücke, Stadtlandschaften, Naturansichten, die aufstrebende Industrie und ihre eigene Welt. In Hunderten von Skizzenbüchern sammelt er die Eindrücke, um sie in Ölgemälde, Aquarelle und Druckgrafik zu verwandeln.
Der Maler ist ein Vielreisender. Unermüdlich durchquert er die heimatliche Insel und besucht den Kontinent von Nord nach Süd. Italien und das besonderes Licht begeistern ihn. Seine Malweise gewinnt an Weichheit. Der Gegenstand tritt zurück, und die Stimmung der Situation erhält im Abbild eine vordergründige Sprache. Die Grenzen lösen sich auf. Regenschleier und feiner Dunst, brodelnde Wolken, Sturm, und das gedämpfte Licht eines stillen Tages werden beredt. Das ist nicht nur sehen, das ist zu erleben, als stehe man mitten drin, fühle Kälte und Nässe oder werde von wohltuender Ruhe eingehüllt.
Die Elogen für den Vertreter der frühen Romantik mehren sich. Turner gilt nun neben John Constable als bedeutendster Maler Englands; er gehört zur europäischen Künstler-Elite. Man sieht in ihm den Wegbereiter des Impressionismus und den Vorboten abstrakter Kunst. Er sei, so verlauten die Meinungen, der Maler atmosphärischer Stimmungen, der darüber hinaus den Farben ungewohnte, neuartige Aussagekraft verleihe. – Bereits Ende des 19. Jahrhunderts erkennt man das Eigenwillige in Turners Bildern: „Seine Idee war es, das Licht selbst zu malen, unabhängig von den Gegenständen, auf die es scheint … “
Im Sommer 1844 unternimmt der Maler eine Reise nach Deutschland, die ihn über die Schweiz nach Italien führen soll. Der Rhein und seine Nebenflüsse haben es ihm angetan. Er bereist Neckar und Mosel und das Tal der Nahe. Und steht vor dem Rheingrafenstein; schaut Felsgewalt, lebhaft dahin fließendes Gewässer und die Mittagssonne über den Hängen. Er skizziert, notiert und gibt dem Gesehenen später das Leuchten der Turnerschen Farben. – Es muss ein sehr schöner Sommertag gewesen sein.
Schlagwörter: Nahe, Renate Hoffmann, Rheingrafenstein, William Turner