von Ulrike Köpp
Wessen Erinnerungen wollen wir lesen, in welches Leben Einblick nehmen? Wer sollte seine Erinnerungen zu Papier bringen und wer sie lieber für sich behalten? Freilich, so steht die Frage nicht. Anne Harich mußte ihre Erinnerungen schreiben, weil deren Gewicht von Glück und Überforderung sie bedrängte. Sie hat mit Wolfgang Harich dessen letztes Lebensjahrzehnt geteilt. Nach seinem Tod fand sie Menschen, die sie beim Schreiben bestärkten, und immerhin einen Verleger. Aber sie scheint keine Fürsprecher für ihr Buch zu finden wie etwa Edith Anderson für ihre Liebe im Exil.
Der Vergleich ist keineswegs abwegig. Zwei Witwen schreiben über ihre Liebe. Die Schriftstellerin amerikanischer Herkunft erinnert sich an ihr Leben mit Max Schroeder, dem Cheflektor des frühen Aufbau-Verlags. Die Krankenschwester erinnert sich an Wolfgang Harich. Der Philosoph und Literaturwissenschaftler war der von Schroeder ganz außerordentlich geschätzte Lektor. Bis den das Ulbricht-Regime in einem Schauprozeß wegen konterrevolutionärer Umtriebe zu zehn Jahren Haft in Bautzen verurteilte.
Ich will mich hier nicht einlassen auf Harichs unrühmliche Rolle in dem gegen ihn angestrengten Prozeß. Ich lasse Edith Anderson das Wort: »ein unersättliches Verlangen nach Bewunderung hat Harich letztlich ruiniert, und nicht nur ihn«. Anderson trifft damit wohl den Kern seiner Persönlichkeit. Seine Witwe bestätigt es mit vielfältigen Beobachtungen aus ihrem Leben mit dem Mann. Und es mag sein: Die fortgepflanzte Erinnerung an Harichs wenig einnehmenden Charakter und Haltung sorgen heute für eine gewisse Reserviertheit gegenüber Anne Harichs Erinnerungen.
Das hat Anne Harich nicht verdient. Ihr Buch erzählt Harichs Lebensgeschichte, wie sie sie von ihm gehört; es macht private Briefwechsel und Dokumente zu wissenschaftlichem und politischem Streit öffentlich, den Harich gesucht und ausgefochten. Das zweifellos disparate Material wird in verschiedenen Handschriften ausgebreitet, aber wiederum von der Liebesgeschichte der Anne H. zu einer großen Erzählung verflochten. Und zwar ganz real in einer geschickten Montage wie auch in einem metaphorischen Sinn. Denn natürlich erheischt die Autorin mit ihrem Schreiben eine politische und moralische Rehabilitierung für ihren Mann.
Das allerdings ist auch die Crux des Buches. Es versteht sich auch als Streitschrift; will und kann aber keinen wissenschaftlichen Anspruch erheben. Wie Anne Harich sich mit künstlerischer Unbefangenheit mitteilt und lebendig ihre Liebesgeschichte erzählt, das berührt mich. Wie sie höchst unterhaltsam von Harichs Alltag, den Ritualen der Liebesleute oder den Unausstehlichkeiten und Lächerlichkeiten ihres Angebeteten erzählt – da verbietet mir der Respekt, im nächsten Moment zur wissenschaftlichen Polemik oder zum politischen Streit überzugehen.
Die Erinnerungen eines Menschen haben ihre eigene Wahrheit. Sie sind nicht mit wissenschaftlichem Maßstab zu messen. Geringschätzen kann sie nur, wem die Neugier fehlt auf das ganz banale Leben der Menschen. Oder wer Geschichte »machen« will wie weiland die Männer des Politbüros oder deren Historiker.
Anne Harich kann die wissenschaftlichen Auslassungen des von ihr geliebten Mannes über Lukács und Nietzsche nicht beurteilen. Aber sie hat mit ihm gelitten, wie er in isolierter Lage mit Aufsätzen und Konzeptionen vergeblich um wissenschaftliche Anerkennung kämpfte. Und wie Anne Harich sich freigeschrieben und dazu Dokumente und Erzählung angehäuft hat, bietet sie manch Aufschlüsse über das Leben in der DDR. Ja, in ihren anschaulichen, ausschweifenden Erzählungen vom Kosmos des Wolfgang Harich erscheinen die Merkwürdigkeiten des untergegangenen Landes wie in einem Brennglas. Etwa dessen feudalsozialistische Strukturen und Verkehrsformen, wenn Harich mit ebenso zahl- wie endlosen Briefen an die Obrigkeit für seine wissenschaftlichen und politischen Anliegen wirbt. Oder wenn Peter Hacks sich bei eben derselben Obrigkeit dafür verwendet, daß der politisch ungeliebte Philosoph eine Rente bekommt, von der er leben kann.
Auch haben mir Anne Harichs Erinnerungen alte Legenden bestätigt. So etwa, wenn sie erzählt, wie Gisela May dem ehemaligen Lebensgefährten mit Blankoschecks geholfen hat. Die Legende vom solidarischen Verhalten der großen Schauspielerin gegenüber dem als Staatsfeind stigmatisierten Harich hatte mich als Halbwüchsige fragen lassen, ob ja vielleicht mit dem Staat beziehungsweise der SED etwas nicht stimme.
Auch habe ich von den Hintergründen einer Veröffentlichung erfahren: Da mutete mir doch meine Zeitschrift Sinn und Form noch 1987 einen Aufsatz von Wolfgang Harich über Nietzsche zu, in dem er forderte, dessen Schriften zu verbieten. Der Philosoph, der Harich doch sein sollte, kam mir eher wie ein dogmatischer Ideologe der fünfziger Jahre vor. Jetzt weiß ich, wie er sich in seinem verzweifelten Bestreben, sich als nützliches Mitglied der Gesellschaft zu erweisen, von Hager & Co. als Geschütz gegen eine historisch überfällige differenzierte Nietzsche-Rezeption hatte benutzen lassen.
Das nur allzu menschliche Bedürfnis dazuzugehören, ließ Harich noch 1988 um Aufnahme in die SED kämpfen. Das hat doch etwas Tragikomisches.
Anne Harich: »Wenn ich das gewußt hätte …« Erinnerungen an Wolfgang Harich, Verlag Das Neue Berlin 2007, 431 Seiten, 19,90 Euro
Schlagwörter: Anne Harich, Ulrike Köpp, Wolfgang Harich