Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Juli 2008, Heft 14

Verdrehungen

von Erhard Crome

In diesem Lande laufen derzeit Leute herum, die behaupten, sie seien Linke und verträten als solche eine »programmatische Ausrichtung gegen Antisemitismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und regressiven Antikapitalismus«. In den Führungsetagen der US-Geheimdienste ist am Anfang der Bush-II-Zeit überlegt worden, was das beste Mittel wäre, internationale Proteste gegen die Kriegspolitik zu diskreditieren. Sie kamen darauf, Antiamerikanismus und Antisemitismus in eins zu setzen, so daß Kritik an der real gemachten Politik der US-Regierung als Antisemitismus gelten sollte. Das hat dann vielfach funktioniert. Leute, die sich als »links« verstanden, unterstützten den Überfall auf den Irak, wie sie jetzt dem Krieg gegen den Iran das Wort reden. »Linker« Bellizismus ist für die Herrschenden besonders nützlich; wenn es ihn nicht schon gäbe, müßten die Geheimdienste ihn erfinden.
Das Imperium im Kopf waltet auch anderswo. »Amerikanismus« als Jugendkultur galt spätestens seit den 1950er Jahren als Ausdruck von Revolte, von Aufbegehren und Fortschritt. Etliche Analytiker, die heute über das kapitalistische Weltgefüge schreiben, wollen über Imperialismus nicht reden, lieber über »Empire«, vertreten durch die übermächtige Militärmaschinerie der USA, nicht als Ausdruck einer imperialistischen Politik der USA, sondern als Ausdrucksform des globalisierten Weltkapitalismus. Damit erhalten Militarismus und Eroberungspolitik gleichsam die höheren Weihen des objektiv Notwendigen. Konsequenz einer solchen Perspektive ist am Ende eine fatalistische Akzeptanz der faktischen Macht. Der Kopf meint, weiter den Kapitalismus zu kritisieren, und aus dem Bauch kriecht die Erinnerung an die Amerikaliebe der Jugendzeit..
Betrachten wir etliche der gegenwärtigen ideologischen Debatten in Deutschland, so fällt diese Umkehrung ins Auge: Unter den Linken, die programmatisch und politisch die schärfsten Kritiker der US-Politik sein sollten, rumort eine positive Bezogenheit auf die USA, die die deklarierte Kritik behindert. Gleichzeitig tritt die gegenteilige Umkehrung immer deutlicher in die Öffentlichkeit. Ein meinungsbildender CDU-Politiker sagte jüngst – bezogen auf die Ablehnung des Lissabon-Vertrages durch das Referendum der Iren –, da hätten wohl in Washington und Moskau die Sektkorken geknallt. Die programmatische und politische Position der Konservativen wie auch großer Teile der Sozialdemokraten, der Liberalen und der Grünen ist zwar eine grundsätzlich positive Orientierung auf die USA, zugleich aber wollen sie faktisch die Europäische Union als Gegenpol zu den USA ausgestalten.
Herfried Münkler, der derzeit bekannteste unter den intellektuellen Imperialisten in Deutschland, hatte bereits in seinem vielzitierten Imperiumsbuch die Position, das US-Empire sei nichts anderes als die machtpolitische Absicherung des Weltmarktes, zurückgewiesen und seine Erörterungen zum Thema Imperien letztlich nicht auf die USA, sondern auf die Europäische Union gerichtet. Inzwischen findet ein Buch Verbreitung, in dem gerade verneint wird, daß die USA überhaupt Imperium seien, während die EU das Imperium der Zukunft sei. Warum Europa Weltmacht werden muß, ist die Zielrichtung.
Der Autor heißt Alan Posener und ist Journalist, Kommentarchef der Welt am Sonntag. Das Buch übernimmt in mancher Hinsicht die Münklerschen Perspektiven, insbesondere die positive Besetzung des Imperiums-Begriffs als Ordnungsmacht des 21. Jahrhunderts und die Vorstellung von konzentrischen Kreisen, die eine differenzierte Herrschaftsgestaltung vom Zentrum zur Peripherie hin ermöglichen. Zugleich sieht er in der imperialen Struktur stärker eine Form der Überwindung des Nationalstaates.
Dieses Werk sollte als politische Bekundung in dreierlei Hinsicht Aufmerksamkeit finden. Zunächst wird sehr offen dargestellt, daß der gesamte Prozeß der Osterweiterung der EU bereits ein imperialistischer Vorgang war. Das beginnt mit der Darstellung der deutschen Vereinigung unter der Überschrift Europas sanfter Imperialismus. Dazu heißt es: »Westdeutschland traute sich 1989 zu, seine politische, wirtschaftliche, juristische, administrative und soziale Ordnung dem ehemaligen sozialistischen Musterland DDR überzustülpen. Mit einer nationalen Widerstandsbewegung war nicht zu rechnen, da die ›Wessifizierung‹ Ostdeutschlands ja im Namen der Nation – der Wiederherstellung der inneren Einheit Deutschlands – erfolgte. Soziale Unruhen könnten mit massiven Transferleistungen erstickt oder gedämpft werden. So kam es auch.«
Westeuropa habe sich einen solchen Kraftakt gegenüber Osteuropa jedoch nicht zugetraut. Deshalb »fand die Wiedervereinigung des Kontinents nicht schon 1990, sondern erst 2004 statt«. Es sei deutlich, »daß die Osterweiterung der EU ein imperiales Projekt war. Nicht die Wünsche der Beitrittsländer bestimmten das Tempo der europäischen Wiedervereinigung, sondern die Bedingungen der Mitgliedsländer«. Ein Infragestellen des gesellschaftlichen Modells war bei der Osterweiterung der EU ebensowenig vorgesehen wie bei der deutschen Vereinigung. »Die Illusion der Freiwilligkeit ermöglicht die imperiale Übernahme. Wo diese Illusion nicht unbedingt nötig ist, wird sie auch nicht aufrechterhalten. Bosnien-Herzegowina etwa wird von einem ›Hohen Repräsentanten‹ der Europäischen Union verwaltet, der ähnliche Vollmachten hat wie der Gouverneur einer britischen Kolonie.«
In einem nächsten Schritt wird die »Europäische Nachbarschaftspolitik« als Fortsetzung dieser imperialen Politik in dem folgenden konzentrischen Kreis der abgestuften Herrschaft vom Zentrum zur Peripherie, dem »größeren Europa«, angesehen. Aufgezählt werden Algerien, Armenien, Aserbaidshan, Weißrußland, Ägypten, Georgien, Israel, Jordanien, Libanon, Libyen, Moldawien, Marokko, die Palästinensische Autonomiebehörde, Syrien, Tunesien und die Ukraine. »Damit sind die denkbaren Mitglieder des Imperiums genannt, die äußersten Grenzen Europas im 21. Jahrhundert wohlabgesteckt.« Daß Europa ein Imperium sei, die USA aber nicht, wird schließlich so begründet: Imperium bedeute langfristige und nachhaltige Durchdringung. »Während die USA den Irakern einen Crash-Kurs in Sachen Demokratie zumuten und fieberhaft nach einer ›Exit-Strategie‹ für ihre Truppen suchen, sind die Europäer nach über einem Jahrzehnt und der Ausgabe von zig Milliarden Euro in Bosnien noch nicht von der ›Reife‹ des Volkes überzeugt. Amerikas Haltung ist die einer demokratischen Supermacht, die imperiale Verantwortung scheut. Die Haltung Europas ist die eines klassischen Imperiums.« Die vielleicht aufschlußreichste Aussage bei Posener ist, daß die EU, »von seinen eigenen Bürgern fast unbemerkt«, bereits eine imperiale Macht sei und als solche agiere.
Der Band wurde in das Arsenal der bei der Bundeszentrale für politische Bildung erhältlichen Bände zur öffentlichen Verbreitung übernommen. Jetzt steht offenbar nicht mehr »Demokratie-Erziehung«, sondern »Erziehung von Imperialisten« auf dem Plan. Wir alle sollen das Imperium im Kopf haben, um es zu machen oder um wenigstens nichts dagegen zu tun, daß es gemacht wird. Zumindest dachte wohl jemand, daß der Ablehnung der Kriegseinsätze der Bundeswehr in der deutschen Bevölkerung auf dem Wege solcher politischer Bildung beizukommen sei.

Alan Posener: Imperium der Zukunft. Warum Europa Weltmacht werden muß, Pantheon Verlag (Verlagsgruppe Random House) München 2007, 224 Seiten, 11,95 Euro; auch: Bundeszentrale für politische Bildung Bonn.