Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Juli 2008, Heft 14

Adieu, Tinko?

von Günther Drommer

Ich bin unruhig, weil ich nicht ertragen kann, wenn Lehrer Kern sich um
mich grämen muß. Der kleine Schuricht ist unruhig, weil er fürchtet, die
andern lachen ihn aus, wenn er etwas Falsches sagt. Es soll ihn aber
niemand auslachen. Wir haben uns mit Herrn Kern darüber geeinigt:
»Jeder kann mal dumm sein, du, der, der, der …« Lehrer Kern zeigt auch
auf mich. »Was werden wir groß übereinander lachen. Wir wollen uns
lieber loben, wenn wir klug sind.« Das versprachen wir Lehrer Kern.
Erwin Strittmatter, »Tinko«, 1954

Tinko ist ein Buch für Kinder und Erwachsene von Erwin Strittmatter, das im Osten beinahe jeder kennt, der zur Wendezeit zehn Jahre war. Und viele haben es inzwischen an ihre Kinder weitergegeben, damit eine Erinnerung bleibt an die Zeit nach dem Krieg auf dem Dorf. Wo damals das Brot herkam und heute auch.
In ihrer Ausgabe vom 8. Juni 2008 veröffentlichte Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung einen Aufsatz von Werner Liersch über Erwin Strittmatters Militärzeit. Inzwischen hat sich das Feuilleton landauf landab ausführlich damit beschäftigt. Als Verfasser einer ersten Strittmatter-Biographie aus dem Jahre 2000 habe ich beobachten können, was sich inzwischen ereignete. Historische Tatsachen und Fakten, aus dem Zusammenhang gerissene Zitate wurden miteinander vermischt und weitergegeben. Die Ungenauigkeiten nahmen zu.
Das Unerträglichste an der ganzen Angelegenheit ist die von bestimmter Seite ungeniert praktizierte doppelte Moral. Mit mehr oder weniger bekannten Fakten, Vermutungen und Verdikten, angereichert durch angelesene militärhistorische Fachinformationen aus jüngerer Zeit, hat Werner Liersch einen der bedeutenden deutschen Nachkriegsdichter in düsteres Licht zu rücken versucht, zurückhaltend ausgedrückt. Jetzt gibt er den öffentlichen Moralwächter, wenn er der Lausitzer Rundschau gegenüber großmütig konzediert: »Es muß doch heute keiner eine lupenreine Biographie haben … Immerhin hat Erwin Strittmatter eine große Rolle als Schriftsteller in der DDR gespielt.« Und er halte es auch für problematisch, wenn die Namen von Institutionen und Straßen geändert würden.
Genau darüber wollten die CDU-Oberen von Spremberg, Strittmatters Geburtsstadt, dieser Tagen reden. Ich weiß nicht, ob der langjährige CDU-Bürgermeister dieser Stadt, Egon Wochatz, mitdiskutierte. Er hatte während seiner Amtszeit wiederholt allzu freundlichen Umgang mit den Veteranen einer SS-Panzerdivision gepflegt, die bei Kriegsende in dieser Gegend eingesetzt war.
Werner Liersch, Jahrgang 1932, hätte es auf der nazistischen Karriereleiter höchstens bis zum Hitlerjungen bringen können. Deshalb urteilt er vom sicheren Standpunkt seiner ihm vom Schicksal erwiesenen »Gnade der späten Geburt« und darf sich freuen, nicht schon zehn oder gar zwanzig Jahre früher auf die Welt gekommen zu sein. Niemand weiß, wer dann aus ihm geworden wäre, er selber auch nicht. Liersch vermag sich offensichtlich nicht in die innere Verfaßtheit junger deutscher Soldaten zu versetzen, die, körperlich zufälligerweise einigermaßen gesund, aus einem Krieg zurückkamen, der sie so gut wie alle zu Zeugen oder Teilnehmern von Demonstrationen ihrer rassereinen Überheblichkeit, Verwüstung, Raub, Brandschatzung, Vergewaltigung, Erschießung, Totschlag, Mord hatte werden lassen. Denen – es sind unsere Väter und Großväter – ging es nicht anders als den Vietnam- oder Irak-Kriegs-Veteranen in den USA heute.
Ich habe meine Jugendzeit in Weimar verlebt und weiß, wie so mancher der dortigen Alteingesessenen in all den DDR-Jahren unter dem Zwang des »verordneten Antifaschismus« zum Faktum »Buchenwald« stand. Die Sätze gingen von »Wir haben von nichts gewußt« über »Was sollten wir denn dagegen tun?« bis »So schlimm war es dort gar nicht!« Und es schien für manchen durchaus eine Erleichterung zu sein, als nach der Wende die deutsche Schuld endlich geteilt werden durfte. Nun hatten auch die Russen mit ihrem dortigen »Speziallager« für sehr viele Nazis und leider auch manche Unschuldige mindestens einen Teil der Schuld öffentlich mitzutragen. Aber jeder weiß doch: Man kann Schuld nicht teilen. Jeder trägt seine und kann sie nur durch eigene Taten abtragen. Strittmatter tat das für sich und uns alle mit seinen Büchern, überreichlich, so gut er es vermochte.
Liersch, selbst Schreiber feinsinniger Bücher, will davon im Werk des Dichters nichts bemerkt haben? Hat er nicht wenigstens den Laden, zum Beispiel den Anfang des dritten Teils, gelesen? Warum zitiert er aus dem Wundertäter. Erster Band gerade die Stelle vom Kloster, »ein weißer Bau im Gefells«, in dessen Schutz Strittmatters Alter ego Stanislaus Büdner nach seiner Desertion flieht? Und die andere Stelle, die unmittelbar zu seinem Thema gehört, im Buch direkt daneben, zitiert er nicht. »Paßt« sie nicht? Büdner sagt dort nach einer in allen Einzelheiten geschilderten, von den »Resten seines Bataillons« durchgeführten scharfen Razzia unter den Bewohnern der griechischen Insel – zwei nackt ausgezogene Hirten waren ihrer willkürlichen Ermordung mit Müh und Not entkommen: »Wir haben keine Zukunft. … Mörder haben keine Zukunft.« Der Feldwebel Zauderer widerspricht, aber Büdner entgegnet: »Niemand hier herum fragt danach, was Sie persönlich von sich behaupten. Sie sind hier. Das genügt. Sie sind nicht ohne Mord hierhergekommen. … Sie haben mindestens einen Menschen umgebracht. … Sie haben den Menschen Zauderer getötet, sonst wären Sie nicht hier.« Und über sich selbst urteilt Büdner: »Ich habe den Büdner umgebracht!« Zauderer wirft ein: »Ich bitt Sie, wir sind Soldaten, Büdner.« »Mörder!« schrie Stanislaus. »Wir haben nichts zu hoffen.«
Herr Liersch hat es nicht für nötig gehalten, während seiner Recherche jemals mit Eva Strittmatter über seine neuen Erkenntnisse zum Leben ihres berühmten Mannes zu sprechen. Natürlich auch nicht mit mir. Wir leben doch aber noch nicht wieder im Krieg, in dem man einen Überfall aus dem Hinterhalt überraschend und zur genau berechneten Zeit unternimmt. Ich hätte Werner Liersch zuallerwenigst auf das in meiner Biographie veröffentlichte Militärfoto und andere Fotos hinweisen können, die den Dichter als Wachtmeister seiner Polizei-Einheit in Griechenland zeigen. Selbstverständlich war diese Biographie für hieb- und stichfeste korrigierende Fakten jederzeit offen und wäre es bei einer erneuten Auflage auch heute. Eine öffentliche Diskussion unbewiesener, nichtsdestoweniger diskriminierender Thesen (zum Beispiel der Frage, was Strittmatter in das verbrannte Kriegstagebuch hätte eingetragen haben können) käme dort für mich nicht in Frage. Unmißverständlich muß zumindest festgehalten werden: Obwohl Himmler durchgesetzt hatte, daß die Polizei-Einheit, in der Strittmatter diente, der SS unterstellt wurde, wie andere militärische und zivile Einrichtungen auch: Mitglied der SS war Erwin Strittmatter nicht und hätte es als »wendischer Kito« auch kaum sein können.
Nachdem Aufklärer Liersch und andere ausführlich versucht haben, den Antifaschismus in der längstvergangenen DDR ein weiteres Mal zu delegitimieren, sollten wir uns gemeinsam wieder der Gegenwart zuwenden.
Zum Beispiel fände ich es verdienstvoll, wenn sich Werner Liersch seiner verpflichtenden »Gnade der späten Geburt« bewußt zeigte und – was läge näher – die noch lebenden Restbestände nazideutscher Gebirgsjäger aufforderte, ihre seit langem erwiesene Schuld gegenüber dem griechischen Volk endlich zuzugeben und wenigstens einen Teilbetrag ihrer üppigen Monatsrenten den noch immer auf Entschädigung wartenden Angehörigen der Opfer von damals zukommen zu lassen. Als Sympathisanten jener Truppe könnten sich zahlreiche aktive Bundeswehr-Angehörige im allgemeinen und der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber im besonderen anschließen.
So würde Liersch in diesem speziellen, mittelbar auch Erwin Strittmatter betreffenden Fall mithelfen, daß der Nachfolgestaat Bundesrepublik unser aller Kriegsschuld gegenüber anderen Völkern endlich auch da abträgt, wo es bis heute nicht geschehen ist. Das sollte er am besten schon nächsten Sonntag tun. Auf einer Seite der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. In großer Aufmachung.