von Uwe Stolzmann
Fidel Castro war der dienstälteste Herrscher der Welt und der geheimnisvollste. Nun ging eine Ära zu Ende: Nach knapp einem halben Jahrhundert Herrschaft legte Kubas »Oberster Führer« im Februar alle Posten nieder. Das große Abrechnen hat längst begonnen, das Zählen und Wiegen, Soll und Haben, Plus und Minus. Wohl kein Tribun spaltete sein Volk so wie dieser Comandante – in fanatisch-treue Anhänger und fanatisch-erbitterte Gegner. Mehr als eine Million Kubaner, fast zehn Prozent der Bevölkerung, flohen nach der Revolution ins Exil.
Wie denken Künstler der Zuckerinsel über Castros Vermächtnis? Und was erwarten sie für Kuba, wie geht es weiter? Die Dichter, Maler und Sänger sind so uneins wie ihre Landsleute insgesamt: Fidel der Erlöser – Fidel der Tyrann. Für beide Sichtweisen – meinen die Künstler – gebe es gute Gründe.
Madrid an einem Vorfrühlingstag, eine Plaza in der Innenstadt. Besuch bei der Lyrikerin María Elena Cruz Varela. »Auf diesem Platz gibt es immer noch Manifestationen für Fidel Castro, organisiert von der spanischen Linken und der kubanischen Botschaft«, erzählt die Poetin. »Die Leute hier wollen einfach glauben, daß Castro gut ist. Und daß Che Guevara der Held war, für den sie ihn halten. Sie brauchen das – wie sie den Quijote brauchen.« 1989 bekam die Dichterin in Havanna den Nationalpreis für Poesie. Ein Jahr später schrieb sie einen Brief an den Staatschef und forderte Bürgerrechte: Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Castro reagierte prompt. Frau Cruz Varela wurde von einem Schlägertrupp öffentlich verprügelt, dann verhaftet, gefoltert, verurteilt. »Ich habe Kuba am 12. März 1994 verlassen.« Wie schaut es jetzt aus daheim? »Niemand hat eine Vorstellung davon, wie das Kuba von morgen aussehen soll«, meint María Elena. »Jeder denkt nur an den Augenblick, aus Angst vor Veränderungen. Die Insel ist Gottes Gnade ausgeliefert. Und ich, ich habe manchmal Alpträume von Schlachtfeldern. Träume, in denen ich mich inmitten einer Katastrophe sehe und nach jemandem rufe, der aber nie erscheint. Niemand ist da, nichts. Nur die vollkommen verwüstete Landschaft. Und ich, ganz allein, rufend …«
Havanna, das Hotel Copacabana: Es spielt Grupo Moncada, gegründet vor dreißig Jahren. »Muchas gracias«, sagt Bandleader Jorge Gómez, »ich freue mich über den Besuch von so vielen Freunden.« Und dann hat der Musiker Zeit, an die Zukunft zu denken. »Falls du mich fragst, ob wir uns mit dem Schicksal des Landes verbunden fühlen – ja!«, sagt Gómez. »Wir werden das Land nicht verlassen. Die Gruppe Moncada geht nicht nach Miami. Wir machen die Revolution von diesem Platz aus. Ich weiß, es wird schwierig, den Sozialismus, an den wir denken, zu verwirklichen. Aber an dem Tag, an dem es diese Utopie nicht mehr gibt – etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt –, ich glaube, an diesem Tag beginnt man zu sterben.«
An einem Fenster des Saals, mit Blick auf das Meer, sitzt einer der renommiertesten Schriftsteller der Insel, Senel Paz, Drehbuchautor des Erfolgsfilms Erdbeer und Schokolade.. »Natürlich hat mir das Wort ›revolutionär‹ irgendwann einmal sehr gefallen«, erinnert sich Paz. »Und was ich darunter verstand – revolutionär, Fidel-Anhänger, Sozialist –, das waren die schönsten Dinge der Welt. Ich dachte auch, es sei besser, im Sozialismus gefangen zu sein als frei im Kapitalismus. Man hatte halt absurde Vorstellungen davon, wie das Leben im Rest der Welt abläuft.«
Das Land erlebe gegenwärtig einen Moment der Reflexion, bestätigt der Erzähler. »Viele, die unterdrückt wurden, sind zur selben Zeit Unterdrücker gewesen. Nun lernen sie, sich von der Rolle der Unterdrükker zu befreien. Die Situation ist konfus. Ungewißheit, Angst, Verwirrung … Aber die Kubaner lassen sich nicht unterkriegen. Das merkt man an einem grundlegenden Wesenszug, der Freude am Feiern.«
Alles scheint auf einmal möglich: Daß es besser wird, endlich!, fast fünfzig Jahre nach der Revolution. Oder es wird noch schlimmer, der Hunger, der Verfall, die Repression. Visionen sind rar im Havanna der Gegenwart. So mancher Habanero hört Musik aus dem Wendejahr 1989, Guillermo Tell, einen Song des populären Liedermachers Carlos Varela. Guillermo, das ist Wilhelm, Wilhelm Tell, ein altgewordener Held – Metapher für den greisen Fidel. Carlos Varela singt: »Wilhelm Tell verstand seinen Sohn nicht, der eines Tages keine Lust mehr hatte, den Apfel auf dem Kopf zu tragen. Der Vater fluchte: Wie sollte er nun seine Geschicklichkeit beweisen? Wilhelm Tell, dein Sohn ist groß geworden! Er möchte auch mal seinen Mut erproben! Mit deiner Armbrust.«
In den Straßen Havannas spürt man nichts von einer Krisenstimmung. Auf dem Malecón, der Uferpromenade, sind hunderte Menschen unterwegs, tausende, sie flirten und lachen, sie schauen nach Norden, Richtung Miami. Mit etwas Glück trifft man in der Menge auf Eduardo Ponjuan, Jahrgang 1956. Ponjuan, ein weltweit bekannter Konzeptkünstler, gehört zu einer privilegierten Gruppe – jener Gruppe, die relativ frei reisen kann. Wie sieht er das gegenwärtige Regime, die Ära »Castro ohne Castro«? »Skeptisch«, sagt Eduardo Ponjuan. »Ich sehe dieses System skeptisch und jedes andere auch. Ich glaube nicht an das Paradies, ich glaube an keine ideologische Utopie. Alles scheint mir nur Farce und Machtspiel zu sein.« Und – was wäre das beste System für Kuba? Ponjuan, der Maler, erwidert: »Du meinst: das am wenigsten schlimme? Das wäre ein System, das jedem erlaubt, das zu denken, was er möchte. Solange er niemandem damit schadet.«
Die Ghettoblaster dröhnen über den Malecón: »Wilhelm Tell verstand das alles nicht. Und er erschrak, als der Kleine sagte: Nun lege ich mal dem Vater den Apfel auf den Kopf!« Ein Castro ist fort, ein anderer an der Macht. Und das alte Lied von Carlos Varela wird man nun wieder öfter hören. Denn wer weiß, vielleicht ist Raúl Castro gemeint, wenn es heißt: »Wilhelm Tell gefiel die Idee nicht, nein, er wollte keinen Apfel auf dem Kopf. Er sprach zum Sohn: Ich glaube schon, daß du das bringst. Doch was passiert, wenn der Pfeil danebengeht?«
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