von Heinz-Uwe Haus, Newark, DE
Panos Ioannides, Jahrgang 1935, veröffentlicht seit seinem 20. Lebensjahr Prosa und Theaterstücke, die vielschichtig und unideologisch Fragen der griechisch-zyprischen Identität berühren. Als Zeitzeuge und Handelnder – im antikolonialen Befreiungskampf, beim Aufbau der unabhängigen Republik Zypern, im Bürgerkrieg mit der türkischstämmigen Minderheit, seit der Invasion und Besetzung eines Drittels des Staates durch die Türkei – war und ist der Autor konsequenter Verfechter des Dialogs zwischen Griechen und Türken, Christen und Muslimen. Sein literarisches Werk und seine kulturpolitischen Funktionen (unter anderem als Programmdirektor der Cyprus Broadcasting Corporation und Vorsitzender des PEN-Zentrums Zypern) haben wesentlich zur Herausbildung des demokratischen, pluralistischen und globalen Selbstverständnisses der heutigen Gesellschaft im freien Teil Zyperns beigetragen. Sie reflektieren seinen Weg vom antikolonialistischen Kämpfer zum Verfechter europäischer Integration.
Der vorliegende Roman einer Reise basiert auf Notizen, die Ioannides zwischen Oktober 1962 und Mai 1963 während eines Aufenthalts in den Vereinigten Staaten gemacht hat, einer Zeit, die sich in das Gedächtnis von Millionen Menschen durch die Kuba-Krise, die die Welt an den Rand eines Atomkrieges steuerte, eingebrannt hat. Im Jahr 2003 als der Autor an einem autobiographischen Roman schrieb, zog er die vierzig Jahre alten Notizen zur Gedächtnisstütze heran. Das Überraschende an der Wiederentdeckung der dokumentierten Ereignisse und Erlebnisse war, wie er im Vorwort bemerkt, dass diese „über all die Jahre nichts von ihrer Lebendigkeit verloren oder ihrer Bedeutung eingebüsst“ hatten. Nach einer mehr als vier Jahre dauernden Bearbeitung der Form und des Umfang erschien Amerika ‘62 oder Ein Grieche in der neuen Welt 2008 bei Armida Publications in Griechisch. Seit kurzem liegt das Buch in deutscher Übersetzung von Brigitte Münch im Verlag auf dem Ruffel vor. Der Verlag, der sich bisher vor allem der Vermittlung türkischer Literatur und Sprache gewidmet hat, trägt mit dieser ersten Veröffentlichung eines griechisch-zyprischen Werks nicht allein dem völkerverständigenden Œuvre des Autors Rechnung, sondern erweitert damit die eigene Zielsetzung interkulturellen Verständnisses.
Der Romans erzählt, wie Geschichte und Biographie des Helden einander bedingen. Im Herbst 1962 besucht Petros Archontides, ein Journalist aus Zypern, als Stipendiat der Universität Syracuse die USA. Zu seiner Studiengruppe gehören Kollegen aus der ganzen Welt, unter ihnen der Türke Mehmet Riza Özgül. Trotz der aktuellen politischen Spannungen zwischen Griechenland, Zypern und der Türkei, trotz traditioneller Ressentiments zwischen christlichen Griechen und muslimischen Türken werden Archontides und Özgül sehr schnell Freunde.
Für Archontides hat die Reise in die USA zwei Aspekte: Zum einem dient sie der Erweiterung seines Horizonts und der Aneignung der Möglichkeiten der Neuen Welt; zum anderen wird er sich immer wieder seines eigenen inneren Kosmos bewusst, in dem das Althergebrachte und die neue Erfahrung in eine intensive und schonungslose Auseinandersetzung geraten. Der Kalte Krieg, die Zypernfrage und die Kubakrise politisieren den Umgang und das Verhalten der Figuren mit- und untereinander sowie zu ihrem Gastgeberland.
Die Welt, aus der der Held stammt, könnte gegensätzlicher kaum sein: Eine im Vergleich zu dem riesigen Kontinent Amerika winzige Insel, deren Geschichte sechstausend Jahre zurückreicht, und die sich gerade erst von der fast hundertjährigen britischen Kolonialmacht befreit hatte und infolge der vorhergehenden vierhunderjährigen osmanischen Unterjochung, einschließlich der Ansiedlung muslimischer Anatolier gegen den Willen der griechisch-christlichen und latinischen Inselbewohner, mit der Gründung einer von den „Mutterländern“ unabhängigen Republik nicht nur eine komplizierte staatsrechtliche Koexistenz mit der türkischen Minderheit praktisch bewältigen muss, sondern auch auf der Suche nach einer umfassenden gemeinsamen „zypriotischen Identität“ ist. Auch der dörfliche Kosmos, zu dessen Traditionen die mediterrane Mentalität des familiären und freundschaftlichen Zusammenhalts gehört, kollidiert mit der schillernden großen Neuen Welt; die Begegnung mit dieser ist von Faszination und innerer Ablehnung gleichermaßen geprägt. „Die Angst kam plötzlich. Und scheinbar grundlos“, heißt es im allerersten Satz des ersten Kapitels. Sie bleibt bestimmend – sowohl im Verfolg der Zuspitzung der Kubakrise als auch im alltäglichen Unbehagen in der Fremde. Die Anonymität der Riesenstädte, die Allmacht der Werbung, die Schärfe sozialer Widersprüche versetzen den Gast in Schwindel und Ohnmacht. „Ich bin ein zu alter Wein, um mich mit diesem Most zu vermischen“, begründet der Held seine Zerrissenheit. „Der angepasste Ausländer. Ein Fremder in der Form, in der Mentalität, in der Seelenstruktur, in den Manieren, in der Sprache, in den Träumen. Gewiss bin ich nicht besser als die Millionen, die hier leben. Dennoch ist es mir unmöglich, mein Schicksal mit dem ihren gleichzusetzen. Allein der Gedanke macht mich schon krank.“
Der Held kann dem „amerikanischen Traum“ nicht nur nichts abgewinnen. Er weiß, dass seine „Seele […] unassimilierbar bleibt“. In diesem Bewusstsein und in solcher Einsamkeit ist der Zufall, mit einem Türken das Hotelzimmer zu teilen, die Chance, eine Gemeinsamkeit des sich Fremdfühlens zu erfahren. Bei aller alten und neuen Feindschaft zwischen den Völkern sind sie sich doch näher als sie wahrhaben wollen. „Wir von der Ägäis Umspülten“, fabuliert Mehmet über die Möglichkeiten friedlichen Miteinanders, „wenn wir uns kennenlernen, in null Komma nichts zu Damon und Pythias werden, unsere Länder aber, die Regierungen […].“ Ioannides erzählt, wie Petros, der Sohn Vertriebener aus Kleinasien, in Mehmet seinen „eingeschworenen Freund“ findet und wie dieser in Petros „den ganz normalen Griechen“ erlebt. Angesichts des gegeneinander gerichteten Nationalismus der Volksgruppen auf Zypern, der durch die Gründung der Republik 1960 nur kurzzeitig ausgesetzt war und der sich zum Zeitpunkt der Studienreise des Autors wieder kompromisslos formiert, sind seine „verstreuten, telegrammartigen Notizen“ Dokumente einer menschlichen und gesellschaftlichen Solidarität, ohne die, wie es Mehmet im Roman formuliert, beide der „Amerkanitis“ nicht hätten widerstehen können.
Die Entwicklung der Republik Zypern stärkt trotz aller Rückschläge die Gewissheit, dass keine green line auf Dauer Identität schafft. Das war meine Erfahrung 1975, als ich – nach der türkischen Invasion – das Nationaltheater in Nikosia mit Brechts Kaukasischem Kreidekreis und einem Vorspiel wiedereröffnete, das in der Zukunft einer vereinigten, den Menschen gleich welcher Herkunft dienenden Insel angesiedelt war. Diese Vision wurde zur festen Überzeugung in Jahrzehnten künstlerischer und pädagogischer Zusammenarbeit und bestätigte sich zuletzt auch bei der Uraufführung meines Sprechchores Fernrottung Aktenkundig im Herbst 2010 im Nationaltheater anlässlich des 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer, dessen Botschaft, die Ruinen aus den Zeiten der Teilung Europas hinter uns zu lassen und uns den Modellen gemeinsamer sozialer Solidarität zuzuwenden, dem Publikum aus dem Herzen sprach.
Ioannides widmet seinen Roman seinem türkischen Kommilitonen Mahmut Tali Öngören, dem Zeugen einer Freundschaft, die während eines abenteuerlichen Studienaufenthaltes „entstand, geprüft und fest geschmiedet wurde“.
Panos Iannides, Amerika ‘62 oder Ein Grieche in der neuen Welt. Roman einer Reise, Verlag auf dem Ruffel, Engelschoff 2011, 491 Seiten, 19,80 Euro
Schlagwörter: Griechen, Heinz-Uwe Haus, Identität, Panos Iannides, Türken, Zypern